Die russische Gesellschaft hätte eigentlich als erste auf das Verbrechen an Alexej Nawalny reagieren müssen. Aber es ist völlig unrealistisch, dass Zehntausende vor den Toren des Kremls "Wir werden nicht vergessen, wir werden nicht verzeihen" skandieren, wie sie es gewöhnlich bei Anti-Putin-Protesten tun.
Die russische Öffentlichkeit wird dem Schicksal von Nawalny höchstwahrscheinlich ebenso gleichgültig gegenüberstehen wie dem Kampf des "brüderlichen" belarussischen Volkes für seine Bürgerrechte. Die Russen sind mit der Corona-Pandemie beschäftigt, sorgen sich um ihre Arbeitsplätze und die Zukunft ihrer Familien. Viele haben auch ganz einfach Angst. Denn was dem Oppositionsführer widerfahren ist, diente ja auch dem Zweck, alle Aktivisten zu warnen: "Das passiert, wenn man der Macht in die Quere kommt!"
Mehr als nur ein "Blogger"
Angst ist in Russland nach wie vor ein entscheidendes politisches Instrument. Aber für viele, vor allem für junge und politisch denkende Menschen, wird die Vergiftung ein Meilenstein sein, ein politisches Erwachen - der Moment, an dem jede Hoffnung auf einen geordneten Wandel zunichte gemacht wurde.
Dies ist auch ein kritischer Moment für die Anhänger Nawalnys. Sie werden wohl seinen Kampf gegen korrupte Funktionsträger im Land, einschließlich des inneren Kreises von Wladimir Putin, fortsetzen. Nawalny ist weit mehr als nur ein "Blogger", wie ihn die Propagandisten des Kremls gerne nennen. Er ist ein ernst zu nehmender Politiker, der eine alternative politische und wirtschaftliche Agenda für Russland formuliert hat. Selbst wenn er sich nur vorübergehend von der politischen Bühne zurückzieht, ist das ein Schlag für alle Kritiker des Kremls. Denn es ist schwierig, Nawalny zu ersetzen.
Die Frage ist, wie geschlossen und organisiert seine Unterstützer sind. Ihre Unfähigkeit, eine breite Unterstützung im Volk zu finden, hat traditionell alle russischen Oppositionsbewegungen geplagt - angefangen mit dem "Dekabristen"-Aufstand des Jahres 1825.
Ende der postsowjetischen Mentalität
Wird es dieses Mal anders sein? Hat sich Russland in den vergangenen 30 Jahren wirklich verändert - in der freiesten und wohlhabendsten Zeit in seiner mehr als tausendjährigen Geschichte? Wenn man sieht, was in Belarus und der Ukraine geschieht, weicht dort die postsowjetische Mentalität ganz offensichtlich einem neuen Bewusstsein. Früher oder später wird dieses auch die Russen erfassen. Aber wahrscheinlich noch nicht jetzt.
Die Situation ist eine Herausforderung für Deutschland, die Europäische Union und den Westen insgesamt. Angela Merkel hat erkannt, dass sie über die üblichen Plattitüden der Besorgnis hinausgehen muss, die der Kreml aus Berlin und anderen EU-Hauptstädten gewohnt ist - und sie weiß, dass ihre Erklärung von vergangener Woche allein nicht ausreicht.
Gespaltene Gefühle Europas
Putin ist sich bewusst, dass die EU im Bezug auf Russland gespalten ist. Es gibt diejenigen, die glauben, dass nach Georgien, der Krim, Donbass, dem Abschuss von Flug MH17, der Ermordung von Boris Nemzow und der Intervention in Syrien nur die härteste Linie gegenüber Moskau in Frage kommen kann. Das sind vor allem die mittelosteuropäischen und baltischen Länder.
Dann gibt es diejenigen, die glauben, dass es unter allen Umständen notwendig ist, Russland "einzubinden". Denn ohne seine Beteiligung könne man den Konflikt in Syrien nicht lösen, Libyen versöhnen, den Atomdeal mit dem Iran retten und so weiter und so fort.
Was wird aus Nord Stream 2?
Die Stimme Berlins zählt neben der von Paris zu den stärksten und einflussreichsten der zweiten Gruppe. Erst vor wenigen Tagen sagte Merkel, dass die Gaspipeline Nord Stream 2, das Hauptprojekt von Gazprom in Europa, trotz der aktuellen Entwicklungen fertig gebaut werden müsse.
Putin hat dies immer als Beweis dafür gesehen, dass die Deutschen und die EU insgesamt trotz aller politisch-militärischen Unberechenbarkeit des Kremls schwach sind. Und dass sie vor allem auf das Gas von Gazprom angewiesen sind. Die Tatsache, dass die EU - mit Ausnahme Lettlands, Litauens und Estlands - noch nicht einmal die angekündigten Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime verhängt hat, bestätigt Putin in seiner Überzeugung, dass Unnachgiebigkeit und Härte die richtigen Instrumente im Umgang mit der EU sind.
Wie entschlossen reagieren EU und NATO?
Niemand rechnet wirklich mit einer objektiven und transparenten Untersuchung der Vergiftung Nawalnys durch Moskau. Die Schlüsselfrage ist daher, wie entschlossen Deutschland sowie seine EU- und NATO-Verbündeten reagieren.
Sie könnten aus diplomatischen Gründen einige russische Geheimdienstoffiziere ausweisen, wie es schon 2018 nach dem Giftanschlag auf den russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter gemacht wurde. Das dürfte den Kreml jedoch davon überzeugen, dass in einigen Monaten alles wieder beim Alten sein wird.
Rachegefühle als Folge von Sanktionen
Schärfere Sanktionen - zum Beispiel das Ende für Nord Stream 2 - dürften hingegen im Kreml Rachegefühle auslösen. Neue Eskalationen und das Heraufbeschwören von Spannungen sind die wahrscheinlichste Reaktion Moskaus, wenn der Westen harte Maßnahmen ergreift.
Zu den möglichen Maßnahmen gehören der Ausstieg aus den Minsker Abkommen über die Ukraine, ein demonstratives Zeichen der Unterstützung für Lukaschenko im Kampf gegen dessen eigenes Volk sowie Massenverhaftungen von Nawalny-Anhängern in Russland. All das dient dem Ziel, unter den Europäern Schuldgefühle auszulösen und sie zur Wiederaufnahme des Dialogs zu zwingen.
Mit der Übernahme der Verantwortung für Nawalnys Schicksal hat die deutsche Regierung auch eine moralische Last auf sich genommen. Die ist so schwer, dass es fast unmöglich sein wird, sie ohne bleibende Schäden wieder loszuwerden.