"Migration ist Teil der Menschheitsgeschichte"
Bei dem Versuch europäische Länder zu erreichen, dringen seit Anfang des Jahres massenhaft verzweifelte Menschen auf unsere Fernsehbildschirme. Der für Migration zuständige EU-Kommissar erklärte bereits, dies sei die schlimmste Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Stimmt das?
Vielleicht wird es in Westeuropa so wahrgenommen - richtig ist es aber nicht.
Migration ist Teil der menschlichen Entwicklung seit die ersten Menschenaffen begannen, das afrikanische Rift Valley zu verlassen. Doch die Geschichte der Menschheit ist so vielfältig und komplex, dass es uns schwer fällt, diesen weit zurückliegenden, gemeinsamen Ursprung anzuerkennen. Es ist für uns alle einfacher, sich auf die jüngere Vergangenheit zu beziehen, jene, in der unsere Identitäten durch Ereignisse und soziale Interaktion geformt wurden.
Doch unser Geschichtsbewusstsein ist selektiv. Die meisten Italiener haben wohl längst vergessen, dass sie ganze Nationen wie Argentinien und Uruguay begründeten. Briten mögen sich Australien und Neuseeland nicht verbunden fühlen, ebenso wenig wie Spanier und Portugiesen die südamerikanischen Nationen vielleicht nicht als ihre eigenen, durch Migration entstandene Kreationen betrachten. Chinesen haben vermutlich nur eine sehr vage Vorstellung, weshalb eine ganze Region südwestlich ihres Landes den Namen Indochina trägt. Und Amerikaner empfänden es womöglich als geschmacklos zu erwähnen, dass ein großer Teil ihres Landes von Mexiko gekauft wurde.
Auch Afrika nimmt Flüchtlinge auf
Ein Kontinent wurde in der jüngeren Geschichte nie mit dieser Art von Migration - also der Auswanderung, um von den Reichtümern anderer Regionen zu profitieren - in Verbindung gebracht: Afrika! Bei Afrika denkt man eher an das Leid der Sklaven, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und an die unfaire Behandlung auf internationaler Ebene. Trotz des rasanten Wirtschaftswachstums seit der Jahrhundertwende ist das Narrativ des afrikanischen Kontinents vom Thema Migration bestimmt.
Afrikanische Länder nehmen mehr Migranten auf als der Kontinent Auswanderer in die Welt exportiert. Fakt ist: Die meisten afrikanischen Migranten suchen in anderen afrikanischen Ländern ihr Glück. Doch Europas Anziehungskraft ist groß. Weltweit haben Menschen dank der Verbreitung von Mobiltelefonen nun einfacheren Zugang zu Informationen - Europas Einsatz für die Menschenrechte oder Forderungen nach universellen moralischen Werten werden global gehört. Auch die weitgehende Abwesenheit von Terrorismus und religiösem Extremismus spielen eine Rolle.
Verzweifelte Flüchtlinge oder unerschrockene Abenteurer?
Zu jedem Zeitpunkt der Geschichte hat Wachstum auch für Emigration gesorgt. Wachstum weckt Begehrlichkeiten auf ein neues, besseres Leben, doch die Verteilung der neuen Reichtümer ist besonders im frühen Stadium einer solchen Entwicklung sehr ungleich und schwer vorhersehbar. Jene, denen der Zugang zum neuen Wohlstand ihrer Nachbarn verwehrt bleibt, wagen sich hinaus in die Welt.
Afrika ist der jüngste Kontinent und seine Jugend wird weiter wachsen, während der Rest der Welt altert. Es fällt den alternden Nationen schwer zuzugeben, dass ihre Wohlfahrtssysteme nicht nachhaltig aufgestellt sind. Fest steht jedoch, dass die Bevölkerungspyramide ausgeglichen bleiben muss, allem technologischen Fortschritt zum Trotz. Roboter und geistiges Eigentum können nicht in Sozialversicherungskassen und Rentenfonds einzahlen, dafür es braucht Menschen und produktive Arbeiter.
Die außergewöhnliche und immer noch beeindruckende Unerschrockenheit der europäischen Entdecker vor unbekannten Meeren und Ländern ist vielfach gewürdigt worden. Dieselbe Unerschrockenheit sehen wir heute bei den Migranten. Und sie wenden sich Richtung Europa. Zahltag?
Carlos Lopes ist seit 2012 Vorsitzender der UN-Wirtschaftskommission für Afrika (UNECA) mit Sitz in Addis Abeba, Äthiopien. Auf seinem Blog veröffentlich er regelmäßig Meinungsbeiträge zur Entwicklung Afrikas. Lopes stammt aus Guinea-Bissau.
Aus dem Englischen übersetzt von Jan Philipp Wilhelm.
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