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Politik

Schatten der Vergangenheit

Vincent Haiges
10. März 2017

Willkürliche Verhaftungen, Folter, Flucht: Nach 22 Jahren Diktatur steht Gambia vor der Aufgabe der Aufarbeitung. Doch die neue Regierung unter dem demokratisch gewählten Präsidenten Adama Barrow bittet um Geduld.

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Gambia Demonstranten in Banjul
Seltener Protest zu Zeiten der Diktatur nach dem Tod eines inhaftierten Oppositionellen im April 2016Bild: Getty Images/AFP/Stringer

Schlaff hängen die Blumenvorhänge vor dem Fenster. Madi Ceesay nimmt einen Schluck Tee. Er ist Journalist in Gambia. Bisher hatte er vor einem Gespräch die Vorhänge immer wieder zur Seite geschoben, um die Ecke gespäht und sich vergewissert, dass niemand lauscht. Die Ohren des Regimes waren überall. Eine kritische Bemerkung genügte, um am nächsten Tag spurlos zu verschwinden.

Nachdem sich der Diktator Yahya Jammeh vor 23 Jahren an die Macht putschte, nutze dieser neben dem staatlichen Geheimdienst NIA und der Polizei auch paramilitärische Gruppen, um Kritiker und sogenannte Feinde des Regimes einzuschüchtern. Dazu zählten vor allem kritische Journalisten, Homosexuelle und Oppositionelle. Laut Jammeh verstießen sie gegen die religiösen, kulturellen und traditionellen Werte Gambias. Flucht war für viele der einzige Ausweg. Proportional zur Bevölkerung hatte das mit nur 1,5 Millionen Einwohnern kleinste Land Afrikas eine der höchsten Flüchtlingsquoten weltweit. Viele Flüchtlinge berichteten von grausamen Folterpraktiken in gambischen Gefängnissen. Im Land selbst wurde geschwiegen. Zu viel stand für jeden Einzelnen auf dem Spiel, der sich politisch äußern wollte.

Drei Wochen Foltergefängnis

Ceesay arbeitete für die gambische Zeitung "The Independent" Er und seine Kollegen berichteten kritisch über die Regierung. Vor elf Jahren wurde die Zeitung geschlossen und die gesamte Redaktion festgenommen. Ceesays Kollegen wurden anderthalb Tage lang verhört und anschließend freigelassen.

Madi Ceesay, Journalist aus Gambia
Journalist Ceesay: Traumatische ErinnerungenBild: DW/V.Haiges

Ceesay, damals Chefredakteur der Zeitung, wurde in eines der berüchtigten NIA-Gefängnisse gebracht. Drei Wochen war er dort. Maskierte Männer zogen ihn nachts aus der Zelle, er wurde geschlagen und gefoltert. Die Regierung wollte wissen, für wen er arbeite. Die Vorstellung, dass Journalisten vom Ausland finanziert werden, um den Staat zu destabilisieren, war unter der Regierung Jammehs weit verbreitet.

Seit seiner Freilassung lebt Ceesay mit der traumatischen Erinnerung und dem Wunsch nach einer gerechten Justiz.

Ein neues Gambia

Das war Gambia bis 2016, das alte Gambia. Heute, 23 Jahre nach der Machtergreifung Jammehs, könnte Ceesays Wunsch wahr werden. Gambias neuer Präsident Adama Barrow ist der Gewinner der ersten demokratischen Wahlen in Gambia seit Jahrzehnten. Sein Sieg gelang durch ein Bündnis sämtlicher Oppositionsparteien. Unter ihm hoffen die Gambier auf eine Heimat ohne Angst, ohne Repression; auf ein Land, in dem man offen über Politik sprechen kann. Auf ein neues Gambia.

Straßenszene mit Zeitungsverkäufer, Gambia
Politische Diskussionen auf offener Straße waren 2016 noch undenkbarBild: DW/V.Haiges

An einer Bushaltestelle, an der belebten Westfield-Kreuzung, stehen zwei junge Männer und diskutieren über die verschiedenen Parteien und ob ihr Bündnis halten wird. Sie sind beide Anfang zwanzig, ihr ganzes Leben kannten sie nur Jammeh als Präsidenten. Nun erörtern sie öffentlich die mögliche politische Zukunft des Landes - auch das ist das neue Gambia. In den Zeitungen erscheinen Briefe von Familien, die offen danach fragen, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Die Familien wollen Aufklärung.

Wahrheits- und Versöhungskommission geplant

Der Ort, an dem die Aufklärung von jahrzehntelanger politischer Verfolgung stattfinden soll, ist das Justizministerium in der Hauptstadt Banjul. Für Aboubacarr Tambadou, den neuen Justizminister von Gambia, hat das Errichten einer Wahrheits- und Versöhnungkommission oberste Priorität. Er sitzt in seinem Büro, auf dem Schreibtisch stapeln sich Amtsunterlagen. Gerade erst hatte er eine Konferenz, gleich muss er zum nächsten Termin - der Papierstapel vor ihm wächst. 

Aboubacarr Tambadou, Justizminister aus Gambia
Justizminister Tambadou: "Menschen müssen Geduld haben"Bild: DW/V.Haiges

Um eine funktionierende Wahrheitskommission aufzubauen, schaut sich das Justizministerium zurzeit die Geschichte anderer Kommissionen an - speziell von Ländern, die nach Jahren von Kriegen und Diktatur ebenfalls eine Transformation zur Demokratie durchlebt haben. Südafrika zum Beispiel, das nach Jahrzehnten der Apartheid durch eine Wahrheitskommission den Tätern Amnestie anbot, wenn sie ihre Taten vollständig zugaben. Damit stand nicht Bestrafung, sondern die Versöhnung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im Vordergrund.

Regierung bittet um Geduld

Ob so ein Modell auch in Gambia vorstellbar wäre? Tambadou winkt ab: Noch befinde man sich in der Prüfphase. Schließlich unterscheide sich der kulturelle und geschichtliche Kontext Gambias von Ländern wie Südafrika. Daher könne man nicht einfach ein bestimmtes Model übernehmen und mit der Arbeit beginnen.

Tambadou will trotzdem bereits in diesem Jahr mit dem Projekt starten. Zunächst sollen die Opfer ihre Geschichte der Kommission mitteilen, damit diese jeden einzelnen Fall prüfen kann. Nach zwei Jahren sollen dann die ersten Ergebnisse präsentiert werden. Tambadou bittet die Gambier um Geduld. Viele erwarten nach dem plötzlichen politischen Wandel jetzt auch eine rasche Veränderung in allen anderen Lebensbereichen. Reformen können nicht über Nacht passieren, sagt Tambadou. Auch im neuen Gambia nicht.