Gabriel Boric - das Ende der Ära Pinochet
20. Dezember 2021Es ist wohl eine Ironie der Geschichte, dass Gabriel Boric am Donnerstag, drei Tage vor der Stichwahl, ausgerechnet Wahlkampfhilfe durch eine Verstorbene bekommt. Lucia Hiriart, Ehefrau und engste politische Beraterin von Diktator Augusto Pinochet, der Chile von 1973 mit 1990 mit eiserner Faust regierte, stirbt im Alter von 99 Jahren in Santiago. Viele Chilenen feiern ihren Tod mit einem Hupkonzert in der Hauptstadt.
Den 15 Millionen Wahlberechtigten dürfte spätestens am Donnerstag klar geworden sein, was bei der Stichwahl, 31 Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie, auf dem Spiel steht: ein Weiter-So mit dem rechtskonservativen José Antonio Kast. Oder ein fundamentaler Politikwechsel, weg vor allem vom neoliberalen Wirtschaftsmodell. Oder wie Gabriel Boric es im Wahlkampf ausdrückt: "Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus ist, wird es auch sein Grab sein." Boric schafft es am Ende, etliche Nichtwähler zu mobilisieren.
Bilderbuchkarriere: Vom Studentenführer zum Präsidenten
Wer ist dieser Mann, der noch vor zehn Jahren die Studentenproteste für ein gerechteres Bildungssystem auf der chilenischen Straße anführte und nun mit gerade einmal 35 Jahren eine neue Generation an der Macht verkörpert? Boric, an der Südspitze Chiles in Punta Arenas geboren, besucht dort die Britische Schule und beginnt mit gerade einmal 18 Jahren sein Jurastudium in Santiago.
Der Mann mit den kroatischen und katalanischen Wurzeln gehört immer zu den Ersten, seine Karriere gleicht einem Bilderbuch: 2011 Präsident der Vereinigten Studierendenschaft. 2014, mit gerade einmal 28 Jahren, zieht er nach dem Sieg als unabhängiger Kandidat in seiner Heimatregion als Abgeordneter ins Parlament ein. 2016 gründet er das Linksbündnis "Frente Amplio". Und 2021 plötzlich Präsident, nachdem sich Boric bei den internen Vorwahlen der Linken durchgesetzt hatte.
Hoffnungsträger der jungen Protestbewegung
Vor allem für die junge Protestbewegung, die 2019 zu Zehntausenden in Chile für mehr Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit auf die Straße geht und am Ende die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung per Volksentscheid erreicht, ist Boric der Hoffnungsträger schlechthin. "Heute hat die Hoffnung über die Angst gesiegt", sagt er nach seinem Triumph, wohl nicht ganz zufällig am selben Ort, an dem auch der sozialistische Präsident Salvador Allende zu den Menschen sprach.
Der volkstümliche Boric, der schon einmal Fotos von seinen frisch gestochenen Tätowierungen ins Netz stellt und offen über seine psychischen Probleme spricht, soll nichts weniger als Chile buchstäblich auf links drehen. Eine Herkulesaufgabe in einem Land, das sich zwar rühmt, das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika zu besitzen, gleichzeitig aber weltweit zu den Staaten mit der größten sozialen Ungleichheit zählt. Mehr als der Hälfte der Chileninnen und Chilenen reicht das Geld nicht zum Lebensunterhalt.
Boric will Chile massiv umkrempeln
Seine Reformagenda mit "ambitioniert" zu beschreiben, ist noch untertrieben: ein gerechteres Bildungssystem soll her, bei dem nicht mehr die soziale Herkunft entscheidet. Eine bessere Gesundheitsvorsorge sowieso. Mit einer Steuerreform will Boric Unternehmen und Reiche mehr zur Kasse bitten. Private Rentenfonds sollen weichen und durch eine staatliche Rentenversicherung ersetzt werden.
Boric will die Rechte von Migranten, Indigenen und Homosexuellen stärken. Kultur und Kunst soll mehr Geld bekommen ebenso wie Maßnahmen für mehr Klima- und Umweltschutz. Und der öffentliche Nahverkehr soll gleichzeitig besser und bezahlbarer werden, die Erhöhung der U-Bahn-Preise war 2019 Auslöser von landesweiten Protesten. Kurzum: Chile soll sich auch wirtschafts- und sozialpolitisch endlich vom Erbe der Pinochet-Diktatur lösen.
Die Wirtschaft steht Boric skeptisch gegenüber
Dabei ist Boric keineswegs ein Radikaler, wie ihm seine rechten Kritiker vorwerfen. Mit der gemäßigten Linken, der er Ambitionslosigkeit vorwirft, legt er sich genauso an wie mit den Kommunisten für ihre vorbehaltlose Unterstützung autoritärer Regime in Nicaragua, Venezuela oder Kuba. Sozialdemokrat trifft es vielleicht am besten.
In dem immer noch erzkonservativen Land stoßen die Pläne Borics naturgemäß bei vielen auf Kritik. Die Oberschicht ist schon dabei, ihr Kapital ins Ausland zu bringen. Ein weitere Abwertung des chilenischen Peso wird ebenso befürchtet wie der Fall des chilenischen Leitindex an der Börse. Dem jungen Präsidenten könnte am Ende für seine Reformpläne das nötige Kleingeld fehlen.
Wegen Corona sind auch in Chile die Kassen leer
Denn auch Chile ächzt unter den Folgen der Corona-Pandemie. Die Inflation steigt, die Schulden ebenso, gleichzeitig ist das Wirtschaftswachstum 2020 um fast sechs Prozent gegenüber dem Vorjahr gefallen. Hinzu kommt: seine Koalition "Apruebo Dignidad" hat keine Mehrheit im Parlament, Boric muss für seine Agenda mit aller Wahrscheinlichkeit schmerzhafte Kompromisse mit den anderen Parteien eingehen. Die Enttäuschung seiner Anhängerinnen und Anhänger ist schon jetzt programmiert.
"Ich werde der Präsident aller Chileninnen und Chilenen sein", hat Gabriel Boric nach seinem Wahlsieg gesagt. Vielleicht ist das auch das ambitionierteste aller seiner Ziele, die er ab März 2022 umzusetzen versucht: Ein zwischen rechts und links tief gespaltenes Land zu einen und zu versöhnen.