Alfred Brendel wird wird für sein Lebenswerk ausgezeichnet
9. Oktober 2016Sieben Jahre ist es her, seitdem Alfred Brendel seine pianistische Karriere aufgegeben hat. "Sechzig Jahre Spielen in der Öffentlichkeit scheint auszureichen", kommentierte er den Schritt damals lapidar. Kurz danach erlitt er einen massiven Hörsturz, nimmt Töne seitdem nur noch verzerrt wahr, übt nicht mehr.
Für einen Berufsmusiker das schlimmste denkbare Schicksal? Brendel lässt sich das nicht anmerken. Er sieht fit aus, 15 oder 20 Jahre jünger. "Die Erscheinung täuscht, aber es könnte schlimmer sein", sagt er mit funkelnden Augen und einem leichten Schmunzeln. "Ich habe den Eindruck, jetzt könnte ich sterben - aber dann kommt immer noch etwas dazwischen", führte er dann fort bei einem Portrait zum 85. Geburtstag im deutschen Fernsehsender ZDF.
Interviews mit Alfred Brendel sind selten geworden. Nicht dass er sich stumm zurückgezogen hätte. Im Dezember 2015 trat er anlässlich der Internationalen Telekom Beethoven Competition in Bonn auf; Thema seines Vortrags war "Das A bis Z eines Pianisten". Glasklar, launig, weitsichtig und voller Anekdoten und Lebenserfahrung waren seine Gedanken und Einsichten über die Welt der Musik und der Musiker. Und es war klar: Brendel hat nichts von seiner Bühnenpräsenz eingebüßt, sie hat sich nur verändert.
Kein passiver Befehlsempfänger
Im Sprachduktus erkennt man fast die Spielweise aus seiner langen Pianisten-Karriere wieder. Kritiker priesen die Leichtigkeit und Souveränität darin, er spielte stets präzise und seriös. Der "Philosoph am Klavier" - hager, lang gewachsen und mit dicker Hornbrille - stellte sich mit sparsamer Körpersprache und einer Prise Bescheidenheit in den Dienst des Komponisten. Dennoch war er, um die Londoner Zeitung "The Guardian" zu zitieren, nie sein "passiver Befehlsempfänger".
"Ich fühle mich oft als Charakterdarsteller, erklärte Alfred Brendel 2002 in einem Interview mit der DW. "Ich möchte mich - soweit es geht - verwandeln." Brendel vertraute also doch nicht blind auf den Notentext, sondern brachte stets seine unverwechselbare künstlerische Individualität mit ins Spiel. Warum das so war, auch darauf gab der Musiker eine mögliche Antwort: "Die Jahre, die ich unter Naziherrschaft verbrachte, haben mich immun gegen blindes Vertrauen gemacht."
Die Töne des Pianisten, die auf Schallplatte und CD festgehalten wurden, sind für Generationen von Musikern und Musikliebhabern prägend. "Musik, die nicht gespielt wird, sondern einfach selbständig geschieht": So beschrieb er die Musizierweise seines Lehrers Edwin Fischer und des von ihm verehrten Dirigenten Wilhelm Furtwängler. Die Beschreibung mag auch für sein eigenes Lebenswerk gelten, das auf 114 CDs erscheinen ist. Und Brendel wäre nicht Brendel, wenn es nicht auch noch dazu einen launigen Kommentar gäbe: "Jetzt bin ich neugierig, ob man alles wieder so hinterlässt, wie es war."
Kosmopolit am Klavier
Geboren wurde Alfred Brendel am 5. Januar 1931 im Nordmähren, seine Geburtsstadt liegt heute in der Tschechischen Republik. Der Junge mit deutschen, österreichischen, italienischen und slawischen Wurzeln wuchs an der Adriaküste im heutigen Kroatien auf. Schule in Zagreb, Studium am Konservatorium in Graz, Umzug nach Wien 1950, Übersiedelung nach London 1970, wo er heute noch zu Hause ist: "Ich bin nicht jemand, der Wurzeln sucht oder braucht", sagte Brendel einmal. "Ich möchte so kosmopolitisch wie möglich sein. Ich ziehe es vor, zahlender Gast zu sein. Das ist eine Lektion, die ich im Krieg gelernt habe."
Erstes Konzert mit 17 Jahren, Gewinn des Busoni-Wettbewerbs in Bozen ein Jahr später, bald jahrzehntelange, weltweite Konzerttätigkeit. Die Ernte fuhr er auch ein: drei Ehrendoktortitel (an den Universitäten von London, Oxford und Yale), zahlreiche Preise (darunter der "Ernst von Siemens" und der "Herbert von Karajan"-Preis) und Auszeichnungen für sein Lebenswerk bei den "MIDEM Classical Awards" in Cannes, bei den "Edison Awards" in Holland - und im Oktober 2916 beim ECHO Klassik: Das sind nur einige ausgesuchte Punkte auf der langen Liste von Auszeichnungen, die Alfred Brendel zuteil wurden. Neben der erstaunlichen Bühnenproduktivität hat er auch zahlreiche Gedichte und Essays verfasst und Bücher veröffentlicht. Im September 2015 erschien sein neuestes Werk: "Music, Sense and Nonsense" (Musik, Sinn und Unsinn).
Einige wenige Komponisten
Er war und ist ein Künstler mit einem breiten Horizont. Dennoch kristallisierte sich für ihn heraus, mit welchen Komponisten er sich vornehmlich beschäftigen sollte. Als Erster nahm er das komplette Klavierwerk Ludwig van Beethovens auf. Zudem bezeichnete ihn der deutsche Musikkritiker Joachim Kaiser schlicht als "den Schubert-Interpreten seit 1950". Haydn, Mozart, Liszt, Busoni und Brahms gehörten ebenfalls zu seinen Lieblingskomponisten. In späteren Jahren konzentrierte sich Brendel auf nur noch einige wenige, und zwar, aus gutem Grund, wie er im Interview mit der DW 2002 erklärte: "Wenn man die richtigen Stücke spielt, mit denen ein Leben zu verbringen sich lohnt, dann sind das Kraftquellen, die ständig neue Energie aussenden und die Kräfte des Spielers regenerieren."
Auch in Sachen, die nichts mit Musik zu tun haben, fand und findet der Künstler Kraft und Erholung: "Für mich war es immer ein Bedürfnis, nicht nur zu lesen, sondern auch zu schreiben", erzählt der Pianist, "Ich habe in jungen Jahren auch eine Zeit lang gemalt. Jetzt ist es für mich immer wichtiger geworden zu schauen. Ich gehen in Museen, Ausstellungen, ins Kino und ins Theater."
Am 18. Dezember 2008 gab Brendel sein letztes öffentliches Konzert. Mit seinem Sohn, dem Cellisten Adrian Brendel, hat er kurz vor seinem Abschied als Konzertpianist noch Beethovens Cellosonaten aufgenommen. Seitdem bleibt der Altmeister der Musikwelt als Autor und Vortragsreisender erhalten. Sogar Gedanken über den Tod drückt er aus, aber auch hier möchte der Musiker ein Wort mitreden: "Falls man im Paradies immerzu Verdi hören muss", schreibt er, "dann würde ich um Urlaub und um einen gelegentlichen Besuch in der Hölle bitten."
Noch bleibt Alfred Brendel der Welt erhalten und spart nicht mit Witz und Rat. Beim Klavierwettbewerb im Dezember 2015 in Bonn gab er allen angehenden Pianisten einen Tipp: "Ihr sollt Kompositionsunterricht nehmen und selber komponieren. Nur so könne man verstehen, wie ein Werk von Anfang bis Ende durchdacht wird."