Früher Feind, heute Freund
3. Oktober 2013Lothar Bauer und Klaus Staltmair treffen sich an der Mauer von Mödlareuth. Genauso wie Berlin war dieses Dorf einst geteilt. Die eine Hälfte lag auf dem Gebiet der DDR, die andere im freien Westen. Ein Stück der Mödlareuther Mauer steht heute noch als Mahnmal der Teilung beider deutscher Staaten.
Die Betonwand trennte bis 1989 auch Bauer und Staltmair. Und die deutsch-deutsche Teilung prägte auch das Denken der beiden Männer, ihr Handeln und ihre Karrieren: Staltmair stammt aus Bayern und war schon immer Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Bauer lebte erst in Sachsen, später in Thüringen und hatte bis 1990 einen Pass, der ihn als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik auswies.
Westkontakte strengstens verboten
Bis zur deutschen Einheit stand Lothar Bauer, Jahrgang 1950, in Ostdeutschland in Diensten der Nationalen Volksarmee (NVA). Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, die DDR zu verlassen, obwohl er doch mit Neugier auf die Autos aus dem Westen blickte, die die deutsch-deutsche Grenze passierten und die sich immer weiter entwickelten - ganz anders als der ewig gleiche Trabant, den fast alle DDR-Bürger fuhren.
Bauer selbst hatte das Glück, einen Wagen der DDR-Luxus-Marke Wartburg zu besitzen - ein Privileg für Staatstreue. Denn als NVA-Soldat musste er sich entsprechend vorbildlich verhalten. Mit dem Eintritt in die Armee hatte er den Kontakt zu den 18 Verwandten in der Bundesrepublik abbrechen müssen. "Wir sind halt so erzogen worden in der DDR", meint Bauer fast entschuldigend, "dass Du eben für den Frieden kämpfst, und in diese Richtung hatte ich meine ganze Karriere ausgerichtet."
Bauer war als Jugendlicher ambitionierter Wintersportler. Er genoss Reisefreiheit, ehe ein Unfall seiner sportlichen Laufbahn ein jähes Ende bereitete. Eine Tour nach Oberbayern blieb die einzige Reise außerhalb des Ostblocks.
Klaus Staltmair, auf den Tag genau acht Jahre jünger als Bauer, hat auch gedient. Allerdings bei der Bundeswehr in Westdeutschland. Was Bauer als Staatsgrenze der DDR oder antifaschistischen Schutzwall bezeichnet, nennt Staltmair noch heute - nach westdeutschem Sprachgebrauch - Zonengrenze. Staltmair wuchs in Oberfranken auf, nur zwei Kilometer von dem Ort entfernt, an dem Lothar Bauer auf seinem Posten in den nahen und doch so fernen Westen schauen konnte.
Wie Bauer bei der NVA bekam auch Staltmair bei der Bundeswehr Propagandafilme zu sehen. "Da kam das bekannte Sandmännchen aus dem Ostfernsehen in einem Panzerwagen angefahren". In den Filmen zählte er zu den Guten, die DDR-Bürger im Osten stellten die Bösen dar. Staltmair war Fallschirmjäger. Als Bundeswehrangehöriger durfte er nicht in die DDR einreisen. Und er hatte auch gar nicht das Bedürfnis.
NVA-Major Bauer flog ab und zu auf östlicher Seite übers Grenzgebiet - stets penibel darauf bedacht, nicht den westlichen Luftraum zu verletzen, denn hier standen sich im Kalten Krieg NATO und Warschauer Pakt hochgerüstet gegenüber. Doch als das Ende der DDR nahte, passierte es: "Ich bin das erste Mal mit einem russischen Offizier im Hubschrauber in den Westen geflogen. Aus Versehen. Da hatten wir vorher ein paar Wodka getrunken. Und ich sagte nur: 'Viktor, dreh um!'" Seinem Kompaniechef habe er die Luftraumverletzung mit dem russischen Hubschrauber unverzüglich gemeldet. Doch der habe nur gelacht.
Von der raschen Wende überrascht
Nach Öffnung der Grenze brauchte er ein viertel Jahr, um sich zu einer Stippvisite ins nahe Bayern zu überwinden. Bauer kam sich wie ein Fahnenflüchtiger vor und kann inzwischen darüber lachen. Und er war zu stolz, sich die 100 D-Mark Begrüßungsgeld für DDR-Bürger abzuholen.
Auch Stabsunteroffizier Klaus Staltmair zog es erst nach etwa drei Monaten in den Osten. "Ich bin nur zum Tanken gefahren, weil Du das Auto für fünf Mark volltanken konntest." In der Bundesrepublik kostete Benzin 1989 mehr als das Zehnfache. Dann fuhr er regelmäßig mit Reservekanistern rüber: "Was anderes konnte man dort aber nicht kaufen", erinnert sich Staltmair.
Dass es in der DDR im Volk gärte, hatte NVA-Soldat Bauer an der streng überwachten und abgeschirmten Grenze zum Westen nicht wahrgenommen. Heute erzählt er, dass er schon 1986 einen Wink von einem ostdeutschen Hauptmann bekommen habe, der in Moskau tätig war. "Lothar, merk Dir eines: 1995 haben die Russen keine Zeit mehr für uns. Die haben selbst eigene Probleme genug. Die lassen uns fallen wie einen nassen Sack", hatte der Besucher beim gemeinsamen Streifgang an der Grenze getönt.
Nie hätte Bauer die politische Kehrtwende für möglich gehalten. Doch dann nahmen die Demonstrationen und die Grenzdurchbrüche zu. Als er seine Vorgesetzten fragte, ob man die Leute in den Westen durchlassen solle, wurde er als Konterrevolutionär abgestempelt und als Funktionär der Sozialistischen Einheitspartei (SED) abgelöst. Nach der Wende stand Lothar Bauer vor dem Nichts.
Neuanfang zwischen hüben und drüben
Besonders bitter für ihn war der Brief mit der Nachricht aus dem Bundesverteidigungsministerium in Bonn. Er werde keine Rentenbezüge für die 22 Jahre seiner Grenztruppenzugehörigkeit erhalten. "Ich habe geglaubt, den Staat zu vertreten, aber als die Wende dann kam, wurde ich dafür bestraft. Das hätte ich nie geglaubt, weil die DDR ein anerkannter Staat war", beklagt Bauer und erinnert an die Ursache: den verlorenen Zweiten Weltkrieg: "Wir wurden aufgeteilt und ich habe das Pech gehabt, bei den Russen, in der Ostzone geboren worden zu sein."
Klaus Staltmair und Lothar Bauer lernten sich bei der Jagd kennen. Ihre Reviere grenzen aneinander, das eine auf bayerischer Seite, im ehemaligen Westen, das andere in Thüringen, im Osten. Beide sind Freunde geworden. Und Bauer wohnt inzwischen sogar im Westen, fünf Kilometer von Staltmair entfernt - auf bayerischer Seite. Seinen Betrieb hat er in Thüringen. Der gelernte Bäcker und Konditor beliefert heutzutage Senioren und bringt ihnen Essen portionsweise ins Haus. Weil sein Auto-Kennzeichen seinen Kunden im Westen seine Herkunft verriet und diese Vorbehalte gegenüber einem "Ossi" hatten, meldete er den Wagen ebenfalls auf bayerischer Seite an.
Ja, es gebe noch eine Menge Beton in den Köpfen der Menschen, sagt Klaus Staltmair. Er als "Wessi" hatte keine Nachteile durch die Grenzöffnung. Er leitet jetzt den Fahrzeugpark eines Lebensmittelproduzenten in der früheren Grenzregion.
Am Ende des Treffens steigen beide wieder in ihre Autos. Staltmair fährt einem Geländewagen, Bauer eine hochglänzende US-Karosse. Für die Jagd habe er noch einen alten Lada, sagt Bauer zum Abschied. Ein russisches Modell. Der sei unverwüstlich.