"FRONT" - Der Erste Weltkrieg auf der Bühne
26. März 2014"In Europa gehen die Lichter aus", sagte der britische Außenminister Edward Grey am 1. August 1914, und sie tun es auch an diesem Abend in Hamburg. Ein Trompetenstoß, dann heult der Wind über die dunkle Bühne im Thalia Theater. Schweigend betreten ein Dutzend Schauspieler die Bühne, ohne Uniform, ohne Gewehr, nur im einfachen schwarzen Anzug. Sie setzen sich an Notenpulte, als würde jeder gleich seine Stimme in einem Stück spielen, das sie selbst nicht dirigieren. Dann ertönen Glocken aus der Ferne.
Im hundertsten Jahr nach seinem Ausbruch ist der Erste Weltkrieg wieder präsent: In den Zeitungen, in Filmen, in der Literatur - und auf den Theaterbühnen Europas. "Front" heißt das Stück, das nun der Belgier Luk Perceval, der Leitende Regisseur des Thalia Theaters, zur Uraufführung gebracht hat.
Literatur und historische Dokumente
Perceval verknüpft zwei berühmte Kriegstagebücher. "Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque erzählt die Geschichte des Frontsoldaten Paul Bäumer, den seine Lehrer und Mitschüler ins Feld treiben. In Henri Barbusses "Das Feuer. Tagebuch einer Korporalschaft" beschreibt ein erfahrener, leutseliger Offizier aus Flandern seinen Alltag an der Front. Zusätzlich hat Perceval etliche Zeitdokumente wie Feldpostkarten mit in den Bühnentext einfließen lassen.
Aber: Wie kann man das tödliche Warten auf der Bühne spielen? Wie das Elend in den Schützengräben, wie die todbringenden Nebel der Giftgasattacken? "Gar nicht", sagt Perceval. "Wie auch der Tod ist der Krieg etwas, das auf der Bühne nicht darstellbar ist. Ich habe absichtlich alle äußeren Zeichen weggelassen, die irgendwie auf den Krieg verweisen könnten." Kein Theaterstück im klassischen Sinne, ein "Requiem für den unbekannten Soldaten" wolle er geben, sagt Perceval.
Musical, Oper, Theater
Einen ganz anderen Ansatz wählten die Regisseure von "War Horse - Gefährten". Hier sind es Pferde, die vor einer Musicalkulisse die Hauptrolle spielen. Es ist die Geschichte eines englischen Jungen, der sein Pferd an die Armee verliert - und in den Krieg zieht, um es wiederzufinden. Drei Schauspieler führen die Mechanik der Pferde aus Bambus, Aluminium und Stoff.
"Agonie", eine Produktion des Deutschen Theaters Berlin, erzählt in historischen Kostümen das Leben und Sterben der russischen Zarenfamilie Romanow nach. Noch während des Krieges, im Juli 1918, wurde sie erschossen. John von Düffels "Weltkrieg für alle" in Wiesbaden spielt in der Zeit eines imaginären, revolutionären Weltkrieges im Jahr 1969. Es sind die Spätfolgen, die hier die Frontsoldaten von einst und ihre Kindeskinder traumatisieren.
Die persönliche Schuld
Das Burgtheater in Wien inszeniert in diesem Jahr Karl Kraus gigantisches "Die letzten Tage der Menschheit" neu. In dem Stück, das vom Autor auf rund 10 Abende Spieldauer geschätzt wurde, müssen 500 Rollen besetzt werden. Und weil auch Australien viele junge Männer im Krieg verlor - rund 60.000 starben auf den Feldern in Europa - kommt dieser europäische Krieg sogar in Sydney auf die Bühne. Nachfahren von Aborigine-Soldaten spielen dort in der Oper, wie ihre Vorfahren lebten, kämpften und starben.
Eine Parabel über die persönliche Schuld von Wissenschaftlern zeigt schließlich "Weltenbrand", das im Januar 2014 in München uraufgeführt wurde. Hier ist es die Frau von Fritz Haber, dem Entwickler des Giftgases, die - ohne selbst zu kämpfen, ohne selbst zu töten - an der Schuld ihres Mannes zerbricht und sich mit seiner Waffe ins Herz schießt.
Auch nach Sarajewo wird das Ensemble reisen
Doch während in "Weltenbrand" bald auch von deutschen Waffenexporten im Heute die Rede ist, bleibt "Front" bei den authentischen Briefen und Texten der Vergangenheit. Obwohl es das Kämpfen nicht zeigt, ist Percevals Stück so nah an der titelgebenden Front wie kaum ein anderes.
In den nächsten Wochen wird das Stück auch in Amsterdam und Gent aufgeführt. Rund 30 Gastspielreisen in weitere Städte und Länder sind bereits jetzt geplant. Auch nach Sarajewo wird das Ensemble reisen, dorthin, wo der Erste Weltkrieg mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger 1914 begann.
Ein europäischer Schmerz
Und: "Front" bringt die einst verfeindeten Nationen aus den Schützengräben auf der Bühne wieder zusammen: Schauspieler aus vier Kulturräumen spielen in ihrer Muttersprache. In Deutsch, Englisch, Flämisch und Französisch lesen die Akteure auf der Bühne Feldpostkarten vor, hoffen, weinen, befehlen, sterben. "Polyphonie" lautet deshalb auch der Untertitel des Stückes. "Polyphonie ist eine Summe von Stimmen, Eindrücken und Sprachen", erklärt Perceval. "Zusammen drücken sie einen Schmerz über etwas aus, das die Menschen überkommt und nicht zu erklären ist." So wie der Stolz des jungen Rekruten, den ersten Gegner erschossen zu haben; erst als ein Feind durch Zufall dicht neben dem Frontsoldaten im Graben liegt und stirbt, erkennt er in ihm einen Menschen.
Am Ende, als alle Kameraden schon gefallen sind und mit geschlossenen Augen auf der Bühne sitzen, als die Lichter ausgeknipst werden, eines nach dem anderen, sprechen der deutsche Soldat und ein flämischer Kamerad die letzten Worte des Stückes gemeinsam - jeder in seiner Sprache. An ihr Gegenüber gerichtet, an den Krieg und an sich selbst, lauten sie: "Warum machst du kein Ende?"