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PolitikEuropa

Frankreich und der Islamismus

Barbara Wesel
31. Oktober 2020

Seit dem Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo starben in Frankreich mehr als 270 Menschen durch islamistischen Terror. Nirgendwo in Europa waren es mehr. Warum ist die gewalttätige Ideologie so verbreitet?

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Sozialwohnungen in Frankreich
Sozialwohnungen in FrankreichBild: Vincent Andorra/maxppp/picture-alliance

Als einer der erklärten Feinde Frankreichs erwies sich nach dem jüngsten Mordanschlag von Nizza der frühere malaysische Regierungschef Mohamed Mahatir: Muslime hätten "das Recht, Tausende von Franzosen zu töten wegen der Massaker der (kolonialen) Vergangenheit", schrieb er auf Twitter. Der Eintrag wurde auf Verlangen der französischen Regierung gelöscht.

Aufrufe zu Hass und Gewalt gab es auch bei erneuten Protesten in Teilen der muslimischen Welt, etwa in Pakistan, Libanon, Indonesien oder Bangladesch. Dort wurden Plakate mit dem Bild des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und der Forderung "Enthauptet den Gotteslästerer" gezeigt.

Anti-französische Proteste am Mittwoch in Indonesien
Anti-französische Proteste am Mittwoch in IndonesienBild: Magnus Hendratmo/picture alliance / AA

"Der Schritt vom virtuellen Hass zur echten Gewalt ist klein", sagte der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian.

Krieg innen und außen?

Innenminister Gérald Darmanin verkündete in einem Fernsehinterview, das Land befinde sich "innen und außen im Krieg gegen den Islamismus", und er warnte vor weiteren möglichen Anschlägen. Die Regierung hat Tausende zusätzliche Polizisten und Soldaten mobilisiert, um vor allem Kirchen und Schulen besser zu schützen. Aber damit kann sie höchstens ein Gefühl von Sicherheit hervorrufen. 

Bereits im Februar hatte Präsident Macron in einer Grundsatzrede eine Kampagne gegen den politischen Islam und den "islamischen Separatismus" angekündigt. Er kritisierte dabei auch Imame, die dem Salafismus oder der Muslimbrüderschaft verbunden seien und die "gegen die Republik" predigten. Deswegen will Macron, wie er im Oktober in einer zweiten Rede ankündigte, im Ausland ausgebildeten Imamen künftig die Arbeit in Frankreich verbieten. 

Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian
Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le DrianBild: Julien Mattia/Le Pictorium Agency via ZUMA Press/picture alliance

Noch vor den jüngsten Anschlägen von Paris und Nizza griff der Präsident damit die steigende Besorgnis vieler Franzosen vor dem Einfluss einer islamistischen Radikalisierung in den sozial benachteiligten Vorstädten auf. Wer dafür Beweise suchte, fand sie in dem Buch des früheren Bürgermeisters von Sarcelles, einem Ort im Großraum Paris. 

Francois Pupponi beruft sich darin auf seine langjährigen Erfahrungen an der Basis. In "Die Emirate der Republik: Wie Islamisten die Kontrolle über die Vororte übernehmen", beschreibt der frühere Sozialist, wie eine Gruppe von 100 bis 200 Islamisten und Kleinkriminelle eine Gemeinschaft von 60.000 Bürgern terrorisieren kann - darunter Muslime, Christen, Juden und andere. "Zu den Realitäten dieser Vorstädte gehört der Ausbruch eines radikalen Islam", schreibt Pupponi. 

Salafismus und Muslimbruderschaft

Eine Tiefenstudie zum Aufstieg des radikalen Islam in Frankreich hat das Sozialforschungsinstitut "Montaigne" in Paris vor vier Jahren durchgeführt. Ihr Autor Hakim El Karoui sieht dabei verschiedene Einflüsse. Saudi-Arabien habe zum Beispiel seit Jahrzehnten seinen wahhabitischen Islam in alle Welt exportiert, finanziert durch die Öleinnahmen. Und weil in Frankreich mehr als sechs Millionen Muslime leben - mit etwa neun Prozent der Bevölkerung mehr als in jedem anderen EU-Land - fielen die Sprachkurse, Schriften und Predigten der saudischen Organisationen auf fruchtbaren Boden.

Sausi-Arabien macht seinen wahhabitischen Islam zum Exportschlager
Sausi-Arabien macht seinen wahhabitischen Islam zum Exportschlager Bild: picture-alliance/AP Photo/A. Nabil

Nach dem Arabischen Frühling und dem Erfolg von politischen Parteien mit Verbindungen zur Muslimbruderschaft, zum Beispiel in Tunesien, verstärkte sich auch der Einfluss der europäischen Muslimbrüder: "Das ist eine transnationale muslimische Gemeinschaft, auf Identität gegründet. Sie teilt Ziele nahöstlicher Gruppierungen, macht aber eigene Politik", schreibt El Karoui.

In ihrem Umfeld verbreitete sich der Salafismus, erklärt der Soziologe weiter, die dynamischste Bewegung in Europa und inzwischen für viele Muslime die geltende Referenz für eine strenge religiöse Praxis. Salafismus, so El Karoui, basiere auf der Studie der heiligen Texte und sehe sich im Gegensatz zur "westlichen Dekadenz". Ziel der Salafisten sei eine totale Abwendung von der Gesellschaft und eine getrennte Gemeinschaft, die nach eigenen Regeln lebt.

In Frankreich wurde der Begriff "frèro-salafiste" für den Zusammenfluss beider Strömungen geprägt, die eine Abwendung von der französischen Gesellschaft zum Ziel haben. Nach einer Umfrage des Institut Montaigne werden 28 Prozent der französischen Muslime als "sezessionistisch und autoritär" eingestuft.

Dieser Wille zur Abspaltung ist, was Präsident Macron "Separatismus" nennt, also die Bildung einer Parallelgesellschaft: "Islamistischer Separatismus ist unvereinbar mit Freiheit und Gleichheit, mit der Unteilbarkeit der Republik und der notwendigen Einheit der Nation." Aber Teile der französischen Muslime scheinen diese Ideale für sich längst abzulehnen.

Besetzte Territorien?

In seinem Sammelband "Vom Islamismus besetzte Territorien" beschreibt der Soziologe Bernard Rougier, wie ganze Bezirke französischer Städte unter die soziale Kontrolle der Islamisten geraten sind. Er analysiert den Aufstieg des Salafismus mit seiner "religiösen Re-Codierung der sozialen Realität in Frankreich oder Europa". Und er benennt die Gefängnisse als Hauptverbreitungsorte islamistischer Ideologie. Eine Tatsache, die schon nach den Anschlägen von 2015 offenkundig geworden war. Eine Reihe der zuvor kleinkriminellen Täter war im Gefängnis radikalisiert worden.

Eine Polizeidrohne überwacht die Promenade in Nizza
Eine Polizeidrohne überwacht die Promenade in NizzaBild: Getty Images/AFP/V. Hache

Rougier kritisiert dabei die Theorie, viele der Einzeltäter seien "einsame Wölfe". Er glaubt vielmehr, "salafistische Ökosysteme" würden den Nachwuchs-Dschihadisten die ideologische Basis verschaffen und sie zur Aktion auffordern. Der Soziologe beschreibt auch die Systematik, wie die Salafisten zunächst eine örtliche Moschee übernehmen, um dann schrittweise ein ganzes Quartier unter ihre Kontrolle zu bringen.

Der Salafismus, so erklärt der Soziologe, "ist die Verbreitung einer neuen religiösen Vorstellungswelt. Es ist eine Ideologie, die uns eine religiöse Fiktion als eine Realität anzubieten versucht". Seine These ist darüber hinaus, dass soziale Benachteiligung, Kriminalität und Arbeitslosigkeit zwar wichtige Faktoren bei der Radikalisierung französischer Muslime sind, aber dass das sozial-religiöse Ökosystem der "Frèro-Salafisten" eine noch wichtigere Rolle dabei spiele.

Ist harte Politik die Antwort?

Schon ein Ausschnitt aus der breiten und kontroversen Debatte über die Ursachen des radikalen Islamismus in Frankreich zeigt, wie vielfältig das Phänomen ist. Bei den linken Parteien wurde es lange geleugnet, als rein soziale Erscheinung bewertet und die Diskussion als "islamophob" abgewehrt.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Nizza nach der Messerattacke
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Nizza nach der MesserattackeBild: Gaillard Eric/abaca/picture alliance

Die Rechte dagegen macht schon seit Jahren mit den Ängsten der Franzosen Politik, besonders Marine Le Pens RN-Partei (früher Front National). Die Tatsache, dass der mutmaßliche Attentäter von Nizza ein illegaler Migrant ist, verschärft die Kritik an der Flüchtlingspolitik und die Rufe nach radikaler Repression. So forderte der konservative Abgeordnete Eric Ciotti, Frankreich müsse "sein eigenes Guantanamo" einrichten, um solche Taten künftig zu verhindern.

Präsident Macron weiß jedoch, dass der Kampf gegen den Islamismus nicht mit Maßnahmen zu gewinnen ist, die das Land weiter spalten würden. Sein Ansatz ist flexibler und nuancierter. Allerdings muss er vor den Wahlen im Frühjahr 2022 zumindest die gemäßigt konservativen Wähler auf seine Seite bringen. Je mehr jedoch Anschläge wie in Nizza und zuvor der Mord an dem Lehrer Samuel Paty bei den Franzosen Wut und Verunsicherung hervorbringen, desto mehr dürfte sich auch seine Rhetorik verhärten.