Schwestern, Cousinen oder Fremde?
12. September 2016Als die Alternative für Deutschland bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern aus dem Stand rund 21 Prozent der Stimmen holte und damit die CDU überflügelte, twitterte Marine Le Pen: "Die Patrioten der AfD haben Merkels Partei hinweggefegt. Meine Glückwünsche."
Eigentlich braucht Marine Le Pen kaum Auftrieb von außen. Sie eilt ohnehin von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Bei der jüngsten Europawahl wurde der Front National sogar stärkste Partei. Das war nicht immer so. Ihr Vater Jean-Marie Le Pen war zwar spektakulär in die Stichwahl der Präsidentschaftswahl 2002 gekommen, doch in der zweiten Runde schlossen sich die Reihen gegen ihn, mit großer Mehrheit gewann der Gaullist Jacques Chirac. Für einen großen Teil der Franzosen war der offene Antisemit Jean-Marie Le Pen am Ende unwählbar. Die Gaskammern der Nationalsozialisten hatte er "nur ein Detail der Geschichte des Zweiten Weltkrieges" genannt.
Als seine Tochter Marine 2011 die Parteiführung übernahm, entmachtete sie den Vater Stück für Stück und schloss ihn schließlich wegen "schwerer Verfehlungen" aus der Partei aus. Seitdem bemüht sie sich um eine gemäßigtere Sprache - und hat Erfolg damit.
Angst vor der Globalisierung
Die meisten ihrer politischen Vorstellungen sind allerdings kaum weniger radikal. Sie will eine Rückkehr zum Franc, einen Austritt aus der NATO und eine Volksabstimmung über die weitere EU-Mitgliedschaft. Die Brexit-Entscheidung der Briten spielt ihr dabei in die Hände. Nicht-Franzosen in Frankreich soll die Sozialhilfe deutlich gekürzt werden, die französische Staatsbürgerschaft soll man nur noch durch Abstammung oder Verdienst bekommen und nicht, wenn man "nur" in Frankreich geboren wurde.
Gemeinsam ist den Wählern der AfD, des Front National und anderer rechter Parteien in Europa die Angst vor der Globalisierung und dem Machtverlust des Staates, sagen die meisten Experten. Die Flüchtlingskrise habe diese Angst nur noch verstärkt. Der französische Radikalismusforscher Nicolas Lebourg glaubt, dass die Populisten mit dem Migrantenzustrom "vom Zusammentreffen mehrerer Krisen gleichzeitig" profitieren, zu denen auch die Finanzkrise und die Krise Europas gehörten. Nach den Worten von Jean-Dominique Giulani, dem Präsidenten der Pariser Robert-Schuman-Stiftung, sind die Stimmen für Rechtspopulisten "eine Reaktion auf fehlende glaubwürdige Antworten Europas und ein Protest gegen die Staaten, die keine Lösungen für die Fragen finden, die die Leute beschäftigen." Einwanderungs- und Identitätsfragen, so Giulani, seien dadurch zu ganz großen Themen geworden, die von den Rechtspopulisten aufgegriffen würden.
Le Pen braucht internationale Kontakte
Bisher ist die AfD eher auf Abstand zum Front National gegangen. Der AfD-Europaabgeordnete Marcus Pretzell hat sich zwar Le Pens ENF-Fraktion ("Europa der Nationen und der Freiheit") im Europäischen Parlament angeschlossen. Seine Lebensgefährtin, die AfD-Co-Vorsitzende Frauke Petry, hat sich dagegen noch nie mit Le Pen getroffen. Die Französin Claire Demesmay von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik glaubt, "dass die AfD in Deutschland nicht viel zu gewinnen hat, wenn sie sich dem Front National nahe zeigt", denn der FN gelte in Deutschland zurecht als rechtsradikal. Eine Partei, die mit Antisemitismus in Verbindung gebracht werde, sei etwas, "womit man in Deutschland nicht punkten kann". In den Themen und der Orientierung sieht sie aber viele Ähnlichkeiten.
Umgekehrt sei es für eine französische Politikerin, die Präsidentin werden wolle, wichtig zu zeigen, "dass sie internationale Kontakte und auf Weltebene eine gewisse Anerkennung hat, und dazu gehört Deutschland". Der FN tritt in seinem Programm - als Gegenentwurf zur EU - für ein Bündnis zwischen Russland, Frankreich und Deutschland ein, um, so Demesmay, mit "einer Art Triumvirat" eine "weltweite Führung" anzustreben. Ansprechpartner in Deutschland für dieses Projekt sei die AfD.
Andere Parteien übernehmen FN-Programmatik
Doch während sich die AfD bisher in Deutschland mit einer zwar wachsenden, aber insgesamt immer noch kleinen Rolle zufriedengeben muss, strebt Marine Le Pen im kommenden Jahr nichts weniger als den Einzug in den Elysée-Palast an. Umfragen deuten darauf hin, dass sie durchaus in die Stichwahl kommen kann, möglicherweise sogar als Kandidatin mit den meisten Stimmen. Das hängt natürlich vor allem von den anderen Kandidaten ab. Dem Amtsinhaber François Hollande werden keinerlei Chancen eingeräumt, sollte er tatsächlich noch einmal antreten. Auch ein anderer Sozialist gilt im Moment als chancenlos.
Damit kommt es vor allem auf den Kandidaten der konservativen Republikaner an. Stellen sie den früheren Präsidenten Nicolas Sarkozy auf, könnte Le Pen ihn in der ersten Runde sogar übertrumpfen - darauf deuten verschiedene Umfragen. Tritt der gemäßigte, als seriös geltende Alain Juppé an, hätte dieser demnach die besseren Karten. Doch für die Stichwahl erwarten die meisten politischen Beobachter eine Wiederholung des Phänomens von 2002, als Marine Le Pens Vater haushoch gegen Chirac verlor: Selbst die meisten Linken, so die Prognose, werden dann zähneknirschend den konservativen Kandidaten wählen, um Le Pen zu verhindern. Und da dieser andere Kandidat nach allem Dafürhalten ein Republikaner sein wird, gilt in Frankreich das Kalkül: Wer Präsidentschaftskandidat der Republikaner wird, wird auch in den Elysée-Palast einziehen.
Auch Claire Demesmay hält die Chancen, dass Marine Le Pen die nächste französische Präsidentin wird, für "gleich null". Wahrscheinlicher sei dagegen, "dass andere Parteien manche Ideen des Front National übernehmen". Das sei zum Teil schon der Fall. "Das ist eine echte und unmittelbare Gefahr."