Wie emanzipiert ist die Sportwelt?
9. August 2012Wojdan Shaherkani habe Schande über Saudi-Arabien gebracht. "Du repräsentiert nicht die keusche muslimische Frau", schrieb ein Universitätsdozent aus Mekka via Twitter. Die Sportreporter in London, 20.000 sind angereist, nehmen von den Schmähungen keine Notiz mehr, sie sind in der olympischen Achterbahn längst weitergefahren.
Am vergangenen Freitag waren sie noch da. Die Judoka Shaherkani hatte als erste Frau Saudi-Arabiens einen olympischen Wettbewerb bestritten, sie verlor nach 82 Sekunden. Ihr Bruder Hassan führte sie an einer Hundertschaft Journalisten vorbei. Shaherkani, ein 16 Jahre altes Mädchen, flüsterte etwas von Ehre, Stolz, Zuversicht, sie wirkte schüchtern, ängstlich, sie wollte einfach weg.
Sport ist saudischen Frauen nicht gestattet
Die Reporter hatten ihre "historische" Geschichte: Zum ersten Mal sind alle 204 Nationen bei den Spielen mit Frauen vertreten. In Atlanta 1996 hatten noch 26 Teams nur aus Männern bestanden. In London haben die Nachzügler Saudi-Arabien, Katar und Brunei die Lücke geschlossen. Nawal El Moutawakel, die marokkanische Vizepräsidentin des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), spricht von einer friedlichen Revolution. So das Marketing für ein aufgeklärtes Olympia. Aber: Wie sieht die Wirklichkeit aus?
An einem grauen Londoner Morgen sitzt David Mepham in seinem Glaskastenbüro und erklärt, dass auch historische Geschichten relativ sind. "Der Kampf von Shaherkani war ein bescheidener Schritt", sagt der Großbritannien-Direktor von Human Rights Watch. "Aber die Frauen in Saudi-Arabien haben fast keine Rechte." Sport ist ihnen nicht gestattet, viele leiden an Fettsucht und Diabetes. Wenn sie arbeiten, reisen oder zum Arzt gehen wollen, müssen sie die Erlaubnis eines männlichen Verwandten vorlegen.
In der letzten Reihe
An diesem Mittwoch ist die Läuferin Sarah Attar, die zweite saudische Olympionikin, in ihrem Vorlauf über 800 Meter ausgeschieden. Attar, 19 Jahre alt, ist in Kalifornien aufgewachsen. Es lassen sich von ihr Fotos finden, auf denen sie kein Kopftuch trägt. Doch das Olympische Komitee Saudi-Arabiens forderte von seinen beiden Sportlerinnen, sich in London "dem Islam angemessen zu verhalten": Körper und Kopf verhüllt, in Begleitung eines männlichen Aufpassers. Während der Eröffnungsfeier liefen Attar und Shaherkani in der letzten Reihe ihres Teams ins Stadion ein. Sportlich hatten sie sich nicht für die Spiele qualifiziert, das IOC erteilte ihnen eine Sondergenehmigung - und feierte sich als Menschenrechtsbund.
David Mepham sagt: "Das IOC hat Macht, es muss diese Macht aber auch nach Olympia nutzen, wenn alle Journalisten wieder zu Hause sind." Er möchte verhindern, dass hinter dem Personenkult um zwei Sportlerinnen die wahren Probleme verschwinden: Bildung, Versorgung oder Sexualität von Frauen.
Angst um das Antlitz
In der Rangliste der Pressefreiheit, die Reporter ohne Grenzen jährlich veröffentlicht, liegt Saudi-Arabien von 179 bewerteten Staaten auf Platz 158. Die saudischen Frauen werden wenig von ihren Olympioniken erfahren, die weiterhin im Ausland leben. Sie werden eher die Empörung konservativer Kräfte zu hören bekommen. Ali Seraj Shaherkani, Vater der saudischen Judoka, hat das Innenministerium seiner Heimat um Hilfe gebeten, er hat einen Anwalt engagiert und möchte die Schmähungen gegen seine Tochter juristisch ahnden lassen. Ob er eine Antwort erhalten wird? Für die Sportreporter wäre das vielleicht nur noch eine Meldung wert.
Die Olympische Idee gilt der Friedensstiftung, doch schon in der Antike war es Frauen verboten, Sportstätten zu besuchen. Auch Pierre de Coubertin, Gründer der neuzeitlichen Spiele, sah für Frauen keinen Platz, erinnert die Historikerin Jutta Braun aus dem Berliner Zentrum deutsche Sportgeschichte. "Coubertin dachte, dass körperliche Anstrengung das Mädchenantlitz verzerren könnte."
Frauen mussten sich jede olympische Sportart hart erarbeiten, in London haben sie die letzte Lücke geschlossen, sie sind nun auch fürs Boxen zugelassen. Bei den Winterspielen in Sotschi in zwei Jahren dürfen sie erstmals von der Schanze springen. "Olympia für die Mädchen", titelte die britische Zeitung Observer.
Mädchen ohne Vorbilder
Tim Woodhouse stellt die Frage, was das dauerhaft bringen soll. Er arbeitet für die Women's Sport and Fitness Foundation WSFF: "Zwei Wochen Olympia können keine Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern im Sport bewirken", sagt er. "Aber sie können die Distanz zwischen den Geschlechtern kleiner werden lassen." Er hat auch Zahlen parat, die im patriotischen Goldgeschrei verloren gehen: Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO sind 2011 zwölf Prozent der britischen Mädchen im Alter von 14 regelmäßig aktiv gewesen, bei Jungen waren es doppelt so viele, vor allem muslimische Mädchen sind stark unterrepräsentiert. Zwölf Prozent der Frauen treiben wöchentlich dreimal Sport, bei den Männern sind es zwanzig Prozent. Aus den Sponsorenmitteln für Sport fließen nur 0,5 Prozent an Frauen. "Wir haben es schwer, Mädchen für den Amateursport zu motivieren. Wir brauchen Trainerinnen oder Schiedsrichterinnen."
Von Tim Woodhouse ist es zu Fuß keine Viertelstunde zur Fawcett Society, der einflussreichsten Frauenrechtsorganisation Englands. Die Gesellschaft hat ihren Namen von Millicent Garrett Fawcett, die sich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts für Wahlrecht, Bildung und politische Beteiligung von Frauen eingesetzt hatte. "In der britischen Regierung sitzen mehr Millionäre als Frauen und im Parlament ist nur jedes fünfte Mitglied weiblich", sagt die Aktivistin Preethi Sundaram. Mit diesem Anteil liege Westminster weltweit auf Rang 56. In der britischen Wirtschaft seien nur dreizehn Prozent der Vorstandsmitglieder Frauen. "Überall, wo wichtige Entscheidungen für die Bevölkerung getroffen werden, haben wir einen Mangel an Frauen. Das ist ungesund für eine Demokratie, das hat Auswirkungen auf die Vielfalt und Meinungsbildung einer Gesellschaft." Der Sport zeige das besonders.
Männerbund IOC
Es ist fast unmöglich, eine Olympionikin zu finden, die öffentlich mit dem sportlichen Männlichkeitskult ins Gericht gehen will, zu groß ist die Angst vor dem Verlust der wenigen Sponsoren. Laut der Illustrierten "Stern" schaffen es nur zwei Frauen unter die hundert bestbezahlten Sportler der Welt. Einer Studie der Sporthochschule Köln zufolge liegt der Frauenanteil der Sportberichterstattung bei fünf bis 15 Prozent. "Als Frau können Sie in dieser männerbetonten Vermarktungswelt gut punkten, wenn sie Ihre Haut zu Markte tragen", sagt Imke Duplitzer, deutsche Fechterin und Teilnehmerin in London. "Leistungen sind auch nett, aber nicht so entscheidend." Im Beachvolleyball haben Funktionäre beschlossen, dass Spielerinnen eine Bikinihose tragen müssen, sieben Zentimeter breit, alternativ einen Minirock oder eine Leggings.
Das Internationale Olympische Komitee will dem Publikum weiß machen, dass Olympia die Geschlechtergrenzen aufweicht. Die Bilder der saudischen Judoka Wojdan Shaherkani werden zum Jahreswechsel vermutlich in jedem Rückblick zu sehen sein. Nicht zu sehen sind dann die iranischen Fußballerinnen. Sie konnten sich im vergangenen Jahr nicht für Olympia qualifizieren, da der Weltverband FIFA das Kicken mit Kopftüchern noch nicht erlaubt hatte. IOC-Präsident Jacques Rogge, der oberste Wächter Olympias, wird nicht müde, über das feminine Olympia zu sprechen. Vor kurzem hatte das IOC wieder zwei weibliche Mitglieder aufgenommen. 22 Frauen sitzen nun im Komitee - und fast fünfmal so viele Männer.