"Müssen die Geschlechterrollen überdenken"
6. Januar 2019Deutsche Welle: Im Dezember haben Sie öffentlich erklärt, dass Sie Juan Darthés im Jahr 2009 sexuell missbraucht hat. Damals waren Sie 16 Jahre und er 45 - wie kam es, dass Sie sich nun entschieden haben, in die Öffentlichkeit zu gehen und Anzeige zu erstatten?
Thelma Fardin: Das war ein langer Prozess in meinem Inneren. Und natürlich spielten auch die Anzeigen von Calu Rivero, Ana Coacci und Natalia Juncos [argentinische Schauspielerinnen, die auch Juan Darthés öffentlich der Belästigung beschuldigten, Anm. der Redaktion.] eine Rolle. Das war wie eine Ohrfeige für mich, die es mir nicht mehr ermöglichte, das Thema weiter zu ignorieren. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich mit dem zu beschäftigen, was mir passiert war. Zuerst musste ich das auf emotionaler Ebene lösen und in meinem Umfeld. Danach merkte ich, dass es unvermeidbar war, mich zuerst an die Justiz zu wenden, und dass es auch notwendig war, das öffentlich zu machen.
Ihre Enthüllung haben ein großes Echo in Lateinamerika hervorgerufen. Sind danach andere Frauen auf Sie zugekommen, um Ihnen von ähnlichen Erfahrungen zu erzählen?
Es war beeindruckend und hat mich sehr überrascht. Ich hatte erst vor Kurzem die Möglichkeit zu lesen, was mir in dieser Zeit geschrieben wurde - also in diesen zwei oder drei Wochen. Ich konnte wegen des Medienrummels viele Tage mein zu Hause nicht verlassen. Jetzt befinde ich mich auf Reisen, kann abschalten und mit den Leuten in Kontakt treten. Und da passiert etwas sehr Bewegendes. Die Leute umarmen mich und sagen Danke. Und dieses Dankeschön wird von mir erwidert, weil es auf Gegenseitigkeit beruht. Dank der Unterstützung und der großen Aufmerksamkeit kann auch ich auf irgendeine Weise meinen Heilungsprozess abschließen.
Wie nehmen Sie die Reaktion der Medien und sich selbst wahr, nachdem diese Lawine losgerollt ist?
Für bestimmte Medien ist es am einfachsten und bequemsten, die Angelegenheit zu einer Schmierenkomödie zu machen, anstatt sie zu politisieren, was wir eigentlich brauchen. Selbstverständlich beziehe ich mich nicht auf politische Positionen, sondern darauf zu verstehen, dass es ein Problem ist, das die ganze Gesellschaft betrifft. Und dass es folglich notwendig ist, dass der Staat Maßnahmen ergreift und sich Gehör verschafft. Damit das Echo nicht nur als Schlagzeile in Zeitungen und Fernsehprogrammen zu finden ist, sondern wirklich durchdringt, bis es staatliche Richtlinien gibt.
Denken Sie, dass Ihre Anzeige und die anderer Frauen dazu beitragen, dass die Männer verstehen, was man von ihnen verlangt und worum es bei dieser gesellschaftlichen Veränderung geht?
Es ist wichtig zu verstehen, dass das kein "Krieg der Frauen gegen Männer" ist, sondern dass wir alle die Geschlechterrollen überdenken müssen. Wir müssen eine Revolution der Geschlechter durchführen, weil das Patriarchat weder den Frauen noch den Männern guttut. Wir brauchen nicht den Tod des Mannes, sondern das Ende des Mandats der Männlichkeit. Das hat auch seine Gegenseite. Es geht darum, was wir uns bezüglich der Weiblichkeit vorstellen. Was heißt es, eine Frau zu sein. Diese Sache, mit der wir alle aufgewachsen sind: "Benimm dich wie eine Dame". Dank der Arbeit der vorangegangenen Generationen bin ich sicher, dass auch die Kommenden weiter alte Vorbilder und Strukturen einreißen werden. Es ist unvermeidlich, dass in jeder Debatte Begriffe und Positionen verwechselt werden.
Glauben Sie, dass Ihre Entscheidung darüber zu reden, in Argentinien und Lateinamerika dazu beitragen kann, den Umgang mit Machtmissbrauch und sexistischer Gewalt zu Hause und im Arbeitsumfeld zu verändern?
Ich glaube, meine Geschichte hat dazu geführt, den Deckel anzuheben, damit der Druck aus dem Kessel entweichen kann. Es war mein Fall, aber es hätte auch jeder andere sein können, weil wir das gebraucht haben. Die Veränderung vollzieht sich nach und nach in der Struktur, weil wir uns dekonstruieren und sehen müssen, in welchen Situationen Machtmissbrauch und auch Mikromechanismen herrschen. Wir befinden uns gerade in diesem Prozess. Ich denke, dass ich dazu beitrage.
Was würden Sie den Frauen sagen, die jünger, älter oder genauso alt sind, um erlittenen Missbrauch aufzudecken? Wie kann man das angehen?
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass das Sprechen einen heilenden Effekt hat. Aber es geht nicht nur ums Reden. Es ist auch gefährlich, sich von einer öffentlichen Enthüllung zur anderen zu bewegen. Der gesamte Prozess ist wichtig. Der innere Prozess, den man als Frau damit durchmachen kann. Der Prozess mit dem Umfeld. Es ist sehr komplex, allen den gleichen Ratschlag zu geben, allen Generationen und in allen soziokulturellen Bereichen. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus war es heilsam, zu sprechen und das ans Licht zu bringen.
Thelma Inés Fardin Caggiano wurde 1992 in Bariloche in Argentinien geboren. Mit sechs Jahren spielte sie in ihrer ersten Fernsehserie mit, weitere folgten. Im Dezember 2018 erstattet sie in Nicaragua Anzeige gegen den Schauspieler Juan Darthés wegen sexuellen Missbrauchs. Darthés hat alle Anschuldigungen von sich gewiesen.
Das Interview führte Cristina Papaleo