Recht auf die Eltern? Wird geprüft
24. Oktober 2018Minderjährige Flüchtlinge, die alleine nach Deutschland kommen, haben oft Schreckliches erlebt, viele sind traumatisiert. Umso wichtiger ist für sie, dass sie ihre Eltern nachholen können, wenn ihr Asylantrag positiv entschieden wurde. Unsicherheit in dieser Frage kann sich negativ auf Integration und Bildungserfolg auswirken. So sieht es das deutsche Familienministerium, wie ein Sprecher jetzt noch einmal betonte. Sein Haus wolle sich in dieser Frage für das Kindeswohl einsetzen.
Das klingt nach einer guten Nachricht für unbegleitete minderjährige Geflüchtete. In der Praxis aber ist es bisher so, dass ein Minderjähriger, der einen Asylantrag stellt und während des Asylverfahrens volljährig wird, oder aber während der Antrag auf den Nachzug der Eltern bearbeitet wird, sein Recht gar nicht umsetzen kann.
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Denn in Deutschland ist "für den Anspruch auf Nachzug der Eltern erforderlich, dass das Kind zum Zeitpunkt der Einreise der Eltern nach Deutschland minderjährig ist". So formuliert es das Auswärtige Amt, in dessen Auslandsvertretungen die Eltern im Heimatland den Antrag stellen müssen. Geschwistern könne "als sonstigen Familienangehörigen nur in absoluten Ausnahmefällen zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte Nachzug gewährt werden".
EuGH: Nicht dem Ermessen der Mitgliedsstaaten überlassen
In einer Grundsatzentscheidung hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) schon vor einem halben Jahr eine andere Einschätzung vertreten. Es ging um eine junge Geflüchtete aus Eritrea, die in den Niederlanden während ihres Asylverfahrens volljährig wurde. Der Nachzug ihrer Eltern wurde abgelehnt. Der EuGH aber entschied, dass ihre Minderjährigkeit bei der Einreise und zum Zeitpunkt des Asylantrags entscheidend sei, "das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als 'Minderjähriger' im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist".
Die Richter beschränkten ihren Blick nicht nur auf die Niederlande. Die Bestimmung des Zeitpunkts, bis zu dem ein Flüchtling minderjährig sein muss, um das Recht auf Familienzusammenführung in Anspruch nehmen zu können, kann ihrer Meinung nach "nicht dem Ermessen der Mitgliedsstaaten überlassen bleiben". Sonst seien die Rechtssicherheit und der Grundsatz der Gleichbehandlung gefährdet. Für einen unbegleiteten Minderjährigen wäre es schließlich völlig unvorhersehbar, ob die Behörden schnell genug arbeiten, damit er sein Recht noch wahrnehmen kann. Wenn die Anträge von zwei gleich alten Minderjährigen gleichzeitig gestellt, aber unterschiedlich schnell bearbeitet würden, könnte einer seine Eltern nachholen und der andere nicht.
Pro Asyl fordert 1:1-Umsetzung des EuGH-Urteils
Für die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl ist der Fall völlig klar. Die rechtspolitische Referentin Bellinda Bartolucci sagt im Interview mit der DW: "Wir fordern, dass das EuGH-Urteil 1:1 umgesetzt wird." Es könne nicht sein, dass Asylverfahren oder Nachzugsverfahren in die Länge gezogen würden und so Rechtsansprüche verhindert würden. Pro Asyl habe Kenntnis von vielen Einzelfällen und Kontakt mit Rechtsanwälten: "Da ist es leider so, dass durch die Botschaften die Information kam, dass man sich bei der Frage des Familiennachzugs nicht an das Urteil binden lassen wolle."
Mehrere Bundesministerien in Berlin wollen überprüfen, welche Schlüsse man in Deutschland aus dem EuGH-Urteil vom April ziehen will, hieß es jetzt. Die Federführung hat das Bundesinnenministerium (BMI). Dessen Sprecherin sagte, es bestehe Einigkeit zwischen allen Ressorts, dass die "Bindungswirkung" des EuGH-Urteils "auf jeden Fall nicht gilt für den Nachzug von Eltern", sondern nur für Ehegatten und Kinder. Eine Feststellung, die irritierte, denn das Urteil bezog sich ausdrücklich auf Minderjährige, die eben in aller Regel nicht Ehepartner oder Kinder nachholen wollen, sondern ihre Eltern. Die BMI-Sprecherin betonte, es gebe Unterschiede im deutschen und niederländischen Recht. Ob man aufgrund des EuGH-Urteils zu einer anderen Bewertung komme, werde noch abgestimmt. Wie lange das dauert, konnte sie nicht sagen. Das Urteil habe vorläufig keine Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage. Es hat aber Auswirkungen auf die getrennten Familien.
Vorläufig kein Eltern-Nachzug nach dem 18. Geburtstag
Solange die Ministerien sich noch abstimmen, so heißt es auch beim Auswärtigen Amt, "finden vorerst weiterhin dieselben gesetzlichen Regelungen wie vor dem Urteil Anwendung". Mit anderen Worten: Wenn ein Flüchtling volljährig geworden ist, können seine Eltern nicht nach Deutschland nachziehen. Bellinda Bartolucci von Pro Asyl sagt: "Das ist natürlich fatal, wenn es von Regierungsseite heißt, es gebe noch keine abschließende Abstimmung, aber in der Praxis wird das schon umgesetzt." Die Eltern im Herkunftsland hätten darüber hinaus auch praktische Probleme, wie etwa "überhaupt einen Termin bei der Botschaft zu bekommen". Die deutsche Haltung verunsichere, berichtet Bartolucci. Viele Betroffene, die gerade 18 wurden, riefen an und fragten: "Kann ich jetzt meine Eltern nachziehen lassen oder nicht?"
Im Moment können sie das nach dem 18. Geburtstag nicht. Für sie und alle, deren Asyl- oder Familiennachzugs-Verfahren zu lange gedauert haben, dürfte es ein schwacher Trost sein, dass das Auswärtige Amt betont: "In der bisherigen Praxis werden Fälle, in denen der 18. Geburtstag bevorsteht, von den Auslandsvertretungen prioritär und schnellstmöglich bearbeitet." Die Ministerien stimmen sich weiter ab und es ist völlig offen, was das Familienministerium mit seinem angekündigten Einsatz für das Kindeswohl in Sachen Familiennachzug nach Deutschland erreichen wird.