Fachleute: "2015 darf sich nicht wiederholen"
6. März 2020"Der Migrationsdruck ist gewaltig", warnte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bereits vor zwei Tagen auf dem Europäischen Polizeikongress in Berlin. Aktuell betont Seehofer immer wieder, die Grenzen zu Deutschland seien nicht offen. "Eine Situation wie 2015 darf sich aus Sicht der Kommunen nicht wiederholen. Da würde es zu einer Überforderung kommen", befürchtet Alexander Handschuh, Sprecher des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Immerhin sind viele der vor fünf Jahren eilig in Turnhallen und Containern geschaffenen Notunterkünfte inzwischen wieder abgebaut. "Wir können nicht tausende Plätze in Reserve halten in der Erwartung, dass es eventuell wieder zu einer Situation wie 2015 kommt", sagt Handschuh.
Aufnahmekapazitäten begrenzt
Die überwiegende Mehrheit der rund 11.000 Kommunen sieht sich zwar gut gerüstet, um noch Flüchtlinge aufzunehmen, aber es reicht nicht wieder für die Unterbringung und Betreuung von fast einer Million Menschen. Die Sozialdezernenten von Bremen und Berlin zum Beispiel sprechen von zwei bis dreitausend Plätzen, die man zur Verfügung stellen könnte. Zum Vergleich: 2015 kamen rund 79.000 Flüchtlinge nach Berlin.
Das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) war damals völlig überfordert. Es kam zu Tumulten. "Maximal 200.000, vielleicht 250.000 Plätze bundesweit wären rein logistisch zu verkraften." Dann aber müsse man mit "schweren Auswirkungen" rechnen, schätzt der Sprecher des Städte und Gemeindebundes gegenüber der DW. "Es geht ja nicht nur um Unterkünfte, es geht um eine gelungene Integration." Die aber setze voraus, dass die Flüchtlinge korrekt erfasst werden.
Chaos bei der Registrierung
"Das Problem 2015 war, dass die Länder im Süden Europas Flüchtlinge einfach unregistriert in Richtung Nordeuropa durchgewunken haben", erzählt Heiko Teggatz von der Bundespolizeigewerkschaft. "Das hätte nicht passieren dürfen". Die Probleme damals hätte einfach die Masse von Menschen gemacht. Die Erstregistrierung blieb an Deutschland hängen.
Heute seien zwischen drei und fünftausend Beamte an den Grenzen Deutschlands tätig. Länger als vierzehn Tage könnte man damit aber einem Ansturm wie im Jahr 2015 kaum standhalten. "Wir haben deshalb die Einstellung von 3000 Tarifbeschäftigten bei der Bundespolizei gefordert." Teggatz vertraut zusätzlich auf das Funktionieren von Frontex an den Außengrenzen."Wir wären dann mit den europäischen Partnern eine Art zweite Kontrollinie."
An Befugnissen mangelt es der Bundespolizei nicht. "Wir dürfen alles einsetzen - vom Pfefferspray bis zum Wasserwerfer, um unerlaubte Grenzübertritte zu verhindern", so Teggatz. Rund 139.000 irreguläre Grenzübertritte stellte Frontex an den Außengrenzen noch im Jahr 2019 fest.
Weil selbst Anfang 2017 noch bei 40 Prozent der für die Registrierung zuständigen Ausländerbehörden technische Geräte zur Identitätsfeststellung gefehlt hätten, seien viele Namen mit falscher Schreibweise gespeichert und Fingerabdrücke falschen Personen zugeordnet worden.
Einige der öffentlich präsentierten Methoden zur Stimmbiometrie wie automatische Dialekterkennung seien wirkungslos gewesen. Die Fehlerquote liege heute noch bei 20 Prozent, sagen Experten für Arabistik. Dafür schreitet die Vernetzung vieler Datenbanken voran. Wie etwa das europäische Strafregisterinformationssystem Ecris-TCN mit der Datenbank Eurodac, die europaweit Fingerabdrücke von Asylbewerbern speichert, um Grenzbeamten einen Abgleich zu ermöglichen. Zusätzlich gibt das Schengener Informationssystem SIS Auskunft darüber, gegen welche Personen ein Einreiseverbot verhängt wurde. Die Politik reagierte zusätzlich mit der personellen Aufstockung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Seit 2015 einiges dazugelernt
Vor fünf Jahren gab es eine große Anzahl von freiwilligen Helfern, die sich ehrenamtlich um die Belange der Migranten kümmerten. Von diesen privaten Initiativen würde noch rund die Hälfte existieren. Das aber reiche bei einer erneuten Versorgung hunderttausender Menschen auf keinen Fall mehr aus, sagen Verantwortliche in den Städten. Viele Abläufe zwischen den zuständigen Behörden liefen dafür besser als 2015. Vor allem die Krisen-Zusammenarbeit zwischen Brüssel und den Hauptstädten, so EU-Ratspräsident Charles Michel. Alle in Deutschland für Flüchtlinge Zuständigen wissen, es kommt nicht nur auf die Bewältigung von Flüchtlingsbewegungen an, sondern auf ihre Aufnahme in die Gesellschaft. Ein Job ist dafür ein wichtiges Element.
Integrationsangebote verbessert
Nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) finden inzwischen mehr als 50 Prozent der Zugewanderten nach fünf Jahren einen Job. Die Beschäftigungsquote der Geflüchteten liegt aktuell bei 28 Prozent.
So genannte Willkommenslotsen haben rund 21.000 Unternehmen individuell beraten zu rechtlichen Rahmenbedingungen, Sprachförderung, Aufenthaltstatus, Qualifikationsbedarf, Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten. Das Bundesministerium für Wirtschaft hat zusammen mit den Wirtschaftsjunioren zum Beispiel die Plattform "Start your future" ins Leben gerufen. Es entstand ein Netzwerk "Unternehmen integrieren Flüchtlinge".
Ein Kompetenzzentrum für Fachkräftesicherung (KOFA) entstand. Bereits 2016 engagierte sich jedes vierte Unternehmen in Deutschland für Flüchtlinge. Nützliche Informationen zu ausländischen Berufsqualifikationen liefert das "bq-Portal". Auch "Make-it-in-Germany" will helfen. Seit dem 1. März ist ein neues Gesetz in Kraft zur Gewinnung und Förderung von qualifizierten Fachkräften.
Versagen auf politischer Ebene
Ein EU-gefördertes Projekt mit dem Titel "RESPOND" hat die Entwicklungen von 2015 bis heute verfolgt - in Interviews mit vielen Verantwortlichen und mit Flüchtlingen. Die Studie kommt zu der Erkenntnis: "Die Politik hat sich dahingehend verändert, dass sie sehr stark restriktive Maßnahmen ergreift, um Fluchtmigration abzuhalten." Schon die Einteilung im deutschen Verfahren in Geflüchtete mit und solche ohne Bleibeperspektive liefe darauf hinaus, dass der Rechtsanspruch auf ein faires Asylverfahren nicht wirklich gegeben sei.
Sabine Hess, Professorin, Projektleiterin und Kulturanthropologin an der Universität Göttingen spricht es ohne Umschweife aus: "Seit 2015 hat sich eigentlich nichts wirklich zum Positiven verändert." Noch immer fehle eine Reform des Europäischen Asylsystems. "Es gibt immer noch keine andere Idee, als die Grenzen hochzurüsten, statt über die weltweiten Fluchtproblematiken nachzudenken. Das ist ein massives Armutszeugnis."