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Middelhoff klagt über Haftbedingungen

Nicole Goebel (sbr)9. April 2015

672 Stunden ohne Schlaf soll Ex-Manager Thomas Middelhoff laut Anwälten in seiner Gefängniszelle verbracht haben. Die Behörden erklären, sie wollten ihn vor einem Suizid schützen. Kritiker sprechen von Folter.

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Porträt Thomas Middelhoff (Foto: picture-alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/R. Vennenbernd

Thomas Middelhoff galt für viele Deutsche als Inbegriff des mächtigen Konzernchefs – ein hohes Tier der Wirtschaft, hart arbeitend, aber auch rücksichtslos. Der mittlerweile bankrotte Ex-Manager hatte einmal erklärt, dass er den firmeneigenen Privatjet verwende, weil niemand von ihm verlangen könne, wertvolle Zeit in Warteschlangen vor dem Sicherheitsschalter am Flughafen zu verschwenden.

Das war 2014 bei seinem Gerichtstermin. Mittlerweile sitzt der ehemalige Chef von Arcandor, dem Mutterkonzern der deutschen Kaufhauskette Karstadt, im Gefängnis. Im November war er wegen Untreue und Steuerhinterziehung zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Seine Anwälte legten wiederholt Revision ein – ohne Erfolg. Auch vorgeschlagene Kautionszahlungen, zuletzt in Höhe von 900.000 Euro, wurden vom Gericht abgelehnt. Zu hoch sei die Fluchtgefahr.

Middelhoffs Anwälte behaupten nun, dass ihr Mandant während der Untersuchungshaft im vergangenen Jahr unnötig häufig Kontrollen ausgesetzt worden war. Über einen Zeitraum von vier Wochen, vom 14. November bis zum 9. Dezember 2014, hätten Polizeibeamte alle 15 Minuten in Middelhoffs Zelle Licht angeschaltet, um zu überprüfen, ob er noch am Leben sei. Insgesamt hätte der Ex-Manager deshalb 672 Stunden nicht schlafen können und sei gesundheitlich stark angeschlagen. Der ehemalige Manager leidet an einer seltenen Immunerkrankung, die durch den fehlenden Schlaf noch verschlimmert wurde, so die Anwälte. Deshalb liegt Middelhoff seit Dienstag in einem Krankenhaus zur Behandlung.

Das Wachpersonal aus dem Essener Gefängnis verteidigte die häufigen Kontrollen, weil Middelhoff als selbstmordgefährdet galt. Laut Medienberichten hätte man ein erhöhtes Risiko festgestellt, nachdem im Verlauf des Prozesses herauskam, dass sich Middelhoffs Bruder 2006 das Leben genommen hatte.

Der Justizvollzugsanstalts-Chef Alfred Doliwa sagte der deutschen Zeitung "Bild am Sonntag": "Das Leben des Gefan­ge­nen hat Vor­rang. Was wäre denn pas­siert, wenn sich Herr Mid­del­hoff was ange­tan hätte? Wenn jemand alles zu ver­lie­ren droht, ist das der typi­sche Fall eines Bilanz-Selbstmordes.“ Deshalb hätte Doliwa Beobachtungen in Zeitabständen von 15 Minuten angeordnet, 24 Stunden am Tag.

Thomas Middelhoff vor Gericht (Foto: picture-alliance/dpa)
Thomas Middelhoff wurde in 27 Fällen schuldig gesprochenBild: picture-alliance/dpa

Detlef Feige, der Pressesprecher des Justizministeriums von Nordrhein-Westfalen, in dessen Gebiet auch die Essener Haftanstalt liegt, erklärte der DW, wie solch eine Untersuchung abläuft: "Der Vollzugsbeamte schaut von außen durch einen Spion durch die Hafttür. Wenn es in den Abendstunden ist, muss er leider auch kurz das Licht anmachen. Dann sieht er, ob der Gefangene auf seiner Liege atmet." Zwar gäbe es auch Haftzellen, die videoüberwacht seien, doch Feige bevorzugt die menschliche Kontrolle. "Der Abteilungsbeamte kennt natürlich seine Gefangenen sehr genau und kann sofort sehen, wenn sich etwas verändert hat."

Die sogenannten Intensivkontrollen sind gängige Praxis, wenn ein Häftling als selbstmordgefährdet gilt. "Wir wissen, dass die Suizid-Wahrscheinlichkeit im Strafvollzug fünf bis sieben Mal so hoch ist wie in der allgemeinen Bevölkerung", sagte der Kriminologe Rudolf Egg im Gespräch mit der DW. Der frühere Leiter der Kriminologischen Zentralstelle wies darauf hin, dass die Gefahr vor allem in den ersten Wochen der Haftzeit sehr groß sei.

"Das ist eine Risikosituation, auf die der Staat entsprechend reagieren muss. Er hat eine Fürsorgepflicht", sagte Egg. "Wenn der Staat jemanden einsperrt", müsse er auch sicherstellen, dass diese Person sich nicht selbst gefährdet.

Mögliche Überreaktion?

Egg gestand jedoch zu, dass ein mehrtägiger Schlafentzug, so wie Middelhoff ihn beklagt, "eine Überreaktion" darstelle. Während Egg den Vergleich scheute, stellten einige Beobachter die Kontrollpraxis bereits auf eine Stufe mit den Methoden des berüchtigten DDR-Ministeriums für Staatssicherheit ("Stasi").

"Was über die Behandlung von Thomas Middelhoff in der Justizvollzugsanstalt Essen bekannt geworden ist, erinnert mich an die Methoden des DDR-Staatssicherheitsdienstes", sagte der Direktor der Berliner Stasi-Gedenkstätte Hubertus Knabi der Nachrichtenwebsite Spiegel Online.

Einige sehen in den strengen Kontrollen sogar einen Menschenrechtsverstoß. "Andauernder faktischer Schlafentzug durch sogenannte Selbstmordprävention zerstört einen Menschen physisch und psychisch“, sagte die Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bundestag, Renate Künast (Grüne). "Er ist eindeutig eine Verletzung der Menschenrechte und mit nichts zu rechtfertigen."

Gefängnis Zellenluke (Foto: picture-alliance/dpa)
Suizidgefährdete Insassen sollen Wärter regelmäßig beobachtenBild: picture-alliance/dpa/Jonas Roosens

Die Psychologin Katharina Bennefeld-Kersten, die sich auf Suizidvorbeugung spezialisiert hat, sagte der DW, sie könne sich nicht vorstellen, dass "jemand über vier Wochen alle 15 Minuten mit angeschaltetem Licht kontrolliert wird." Sie glaubt, dass Middelhoffs Anwälte sich schon nach ein paar Tagen beschwert hätten, anstatt mehrere Wochen zu warten.

Jeder Häftling muss vor der Gefängnisstrafe eine gesundheitliche Prüfung durchlaufen und mit einem Vollzugsbeamten sprechen. Falls dieser eine Selbstmordgefahr feststellt, wird ein Psychologe zu Rate gezogen. Auch häufige Beobachtungen sind dann erlaubt, um den Insassen zu schützen.

Weniger Selbstmorde im Gefängnis

Bennefeld-Kersten sagte der DW, dass laut ihren Untersuchungen im Zeitraum von 2000 bis 2013 insgesamt 1067 Häftlinge Suizid begangen hätten. Die Zahlen seien in den vergangenen Jahren gefallen, weil mehr Wert auf Prävention gelegt werde und die Gefängnisse nicht mehr so stark überbelegt seien. Alarmierend fand Bennefeld-Kersten jedoch die Tatsache, dass 90 Prozent der Betroffenen in den Gefängnissen gar nicht als suizidgefährdet gegolten hatten.

"Die Gefangenen sind oft sehr vorsichtig mit ihren Aussagen", erklärte sie. "Wenn sie zugeben, dass sie darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen, dann werden sie eingeschränkt und kommen, wenn sie Pech haben, in einen besonders gesicherten Haftraum. Und da ist Leben gefühlt ganz zu Ende."

Sowohl Egg als auch Bennefeld-Kersten glauben, dass es wichtig sei, mit den Häftlingen so oft wie möglich über deren Probleme zu sprechen. Laut Egg gäbe es ein Pilotprojekt in München, bei dem neue Insassen für die ersten Nächte einen Zellennachbarn erhielten. Dieser könne ihnen helfen, besser mit der neuen Situation umzugehen.