Religion entscheidet brasilianische Präsidentschaftswahl
29. Oktober 2010In Campo Verde, einem Stadtviertel in der grauen Peripherie von Brasiliens Industriemetropole São Paulo, haben die Bewohner die Qual der Wahl. In unmittelbarer Nachbarschaft buhlen fünf evangelikale Kirchen um die Gunst der Anwohner. In einer ehemaligen Lagerhalle residiert die Pfingstkirche “Universal“. Hunderte Menschen drängeln sich dort regelmäßig zu den Gottesdiensten. Wie ein Motivationstrainer treibt der Pastor die Gläubigen an, mit Gott in Kontakt zu treten. “Gott ist bei Euch. Er hört Eure Wünsche“, schreit er immer wieder. Die Gläubigen reißen die Hände in die Luft, halten Zettel mit ihren Wünschen hoch und verfallen regelmäßig in Trance.
Fast direkt daneben hält in einem schmucklosen Flachbau die “Igreja Renascer em Cristo“ ("Wiedergeburt in Christus“) für die Gläubigen ihre Türen offen. Aus dem Inneren tönt Gospel-Musik. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat erst vor Kurzem ein Tempel der „Igreja Internacional da Graça de Deus“, die Internationale Kirche der Gnade Gottes, eine Niederlassung eröffnet. Die weißen Plastikstühle sind neu, es riecht noch nach Farbe. Der Pastor ist 27 Jahre alt und wirbt vor der Kirche mit Flyern um Mitglieder.
Marmortreppen führen in die Kirche der “Assembleia de Deus“, der “Versammlung Gottes“, einer der ältesten und mit rund acht Millionen Mitgliedern größten Pfingstkirchen in Brasilien. “Ich habe gesehen, wie viele meiner Freunde Drogen genommen haben. Das hat mir nichts gegeben“, erzählt die 27-jährige Verkäuferin Luciana Lisboa. Heute ist sie froh über die strengen Sitten, die bei der konservativen “Assembleia de Deus“ herrschen. Frauen tragen keine Hosen, lassen ihr Haar lang wachsen und verzichten auf Make-up. Jede Art von Unterhaltung, die vom Glauben ablenken könnte, ist verboten. Dazu zählen Kino, Theater und auch Fernsehen. “Ich habe Orientierung gefunden und ich bin glücklich darüber“, sagt Lisboa.
“Religion ist ein permanent öffentliches Thema“
So vielfältig wie die brasilianische Gesellschaft ist auch die Religion. Die evangelikalen Kirchen sind eine Macht in Brasilien. Rund zwanzig Prozent der Bevölkerung bekennen sich in dem größten katholischen Land der Welt zum evangelikalen Glauben. In den ärmeren Vierteln am Rande der Großstädte haben die Pfingstkirchen den größten Zulauf. Fast zwei Millionen neue Mitglieder gewinnen sie pro Jahr.
“Religion ist permanent ein öffentliches Thema in Brasilien“, sagt auch der Religionswissenschaftler an der Katholischen Universität in São Paulo, Frank Usarski. Wegen des Fehlens von politischen Projekten dominierten jetzt im Wahlkampf religiöse Themen. In der Stichwahl um das Präsidentenamt am 31. Oktober geht es um die rund 20 Millionen Stimmen der ausgeschiedenen Grünen-Kandidatin Marina Silva. Die habe auf Grund “ihrer positiven Einfachheit“ besonders die evangelikalen Wähler angezogen, sagt Usarski.
Stimmen der Evangelikalen sind wahlentscheidend
Deshalb buhlen jetzt die Favoritin Dilma Rousseff von Lulas Arbeiterpartei PT und ihr konservativer Herausforderer José Serra von der sozialdemokratischen PSDB mit fast allen Mitteln um die wahlentscheidenden Stimmen der Evangelikalen. So gibt die ehemalige Guerillera Rousseff nach einem Treffen mit Vertretern der evangelikalen Kirchen sogar eine offizielle Garantie ab und verspricht, als Präsidentin am strikten Abtreibungsverbot festzuhalten, gegen die Ehe von homosexuellen Paaren einzutreten und sich auch nicht für das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare auszusprechen. Viele Brasilianer reiben sich die Augen ob des Meinungswandels der linken Kandidatin. Noch vor einem Jahr hatte sie glatt das Gegenteil behauptet.
Vor allem das Thema Schwangerschaftsabbrüche erhitzt die Gemüter. Jede fünfte Brasilianerin hat Schätzungen zufolge schon einmal abgetrieben. Nach offiziellen Angaben stirbt jeden zweiten Tag in Brasilien eine Frau an den Folgen von illegalen, verpfuschten Abtreibungen. Damit sind Komplikationen nach Schwangerschaftsabbrüchen für 15 Prozent aller Todesfälle bei Frauen verantwortlich. Das betrifft vor allem die Frauen aus ärmeren Schichten, die sich keine teure Privatklinik leisten können
“Das ist eine heikle Strategie“, meint der Politikwissenschaftler Claudio Couto von der renommierten Getulio-Vargas-Stiftung zu dem Richtungswechsel von Rousseff. Allerdings sei es ein Fehler gewesen, sich nicht früher mit den Forderungen der religiösen Wähler auseinandergesetzt zu haben. Auch Lula da Silva hat 2002 vor allem mit Unterstützung der evangelikalen Wähler aus den ärmeren Bevölkerungsschichten gewonnen. Denn mit zahlreichen Radiosendern, Verlagen und dem landesweit zweitgrößten TV-Sender sind die evangelikalen Kirchen in den Medien omnipräsent.
“Pastoren sagen offen, wen die Gemeinde zu wählen hat“
Victor Ricardo Orellana, ausgebildeter Pastor einer Pfingstkirche, beklagt den zunehmenden Fundamentalismus unter den evangelikalen Kirchen. “Wir erleben gerade einen gesellschaftlichen Rückschritt“, bedauert der 38-Jährige, der als erster Homosexueller zum Pastor in Brasilien ernannt wurde und bereits sechs homosexuelle Paare getraut hat. “Themen wie Abtreibung oder die Homosexuellen-Ehe werden von den Parteien für den Wahlkampf instrumentalisiert“, sagt er. “Es gibt immer noch viele evangelikale Kirchen, die Homosexualität als Krankheit ansehen und heilen wollen.“ Erst vor ein paar Monaten habe es wieder solch einen Fall einer ausgebildeten evangelikalen Psychotherapeutin gegeben. Vor allem in den konservativen Kirchen sei der Einfluss der evangelikalen Pastoren sehr groß, sagt Orellana. “Die Pastoren sagen ganz offen, wen die Gemeinde zu wählen hat und das geschieht dann auch.“
Autorin: Susann Kreutzmann
Redaktion: Mirjam Gehrke