Deutschlands Nachbarn
5. September 2010Bei einem Spaziergang an der französischen Atlantikküste gewann der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl im Januar 1990 den französischen Staatspräsidenten François Mitterrand für den Kurs zur deutschen Wiedervereinigung. Kohl überzeugte den zunächst skeptischen Franzosen mit einem Bekenntnis zur europäischen Integration, was ihm bei seiner britischen Kollegin, Baroness Margaret Thatcher, nicht gelang. Die Premierministerin lehnte die deutsche Einheit ab, wurde aber im November 1990 von ihrem konservativen Parteifreund John Major aus dem Amt gedrängt.
Mit Frankreich hatte Helmut Kohl den wichtigsten deutschen Nachbarn in Europa mit im Boot. Der französische Politologe und Publizist Alfred Grosser sagt heute rückblickend, dass sich in Frankreich die Gefühle gegenüber Deutschland normalisiert hätten. Das hätten sie in Großbritannien und den USA nicht in gleichem Maße getan: "Mit einigen Ausnahmen zeigen die Umfragen in Frankreich: Die Deutschen sind gute Freunde. Es ist ganz natürlich, dass sie wieder vereint sind."
Deutsche handelten europäisch und zahlten
Die deutschen Bundesregierungen aller politischen Färbungen haben in den letzten zwanzig Jahren den Integrationskurs in der EU beibehalten. Sie haben sich, wie 1990 zugesagt, für die Aufnahme der ehemaligen Ostblockstaaten eingesetzt, sie haben für die EU-Osterweiterung gezahlt und die harte D-Mark für den Euro aufgegeben. In einer Regierungserklärung bekräftigte Kohl 1991 sein Versprechen. "Das vereinte Deutschland will keine Rückkehr zum Europa von gestern. Alte Rivalitäten und Nationalismen dürfen nicht wieder aufleben", sagte Kohl im Bundestag. "Wir wollen ein neues Europa, das unsere nationale Identität nicht aufhebt, in dem niemand mehr gegen den anderen, keine Nation im Schatten einer anderen steht, sondern (ein Europa), in dem wir gemeinsam einstehen für eine Zukunft in Frieden und Freiheit, in Wohlstand und Sicherheit."
"Deutsche Einheit bedeutet europäische Einheit"
Die Vorbehalte, die gegen den ehemaligen Kriegsgegner Deutschland in vielen Nachbarstaaten immer noch bestanden, schwanden. In Belgien zum Beispiel, so erklärt der Politikwissenschaftler Dirk Rochtus von der Lessius-Hochschule in Antwerpen, hatte man keine Bedenken gegen ein größer werdendes Deutschland: "Die deutsche Einheit bedeutet auch die europäische Einheit. Das war uns klar in Belgien. Wenn sich die beiden deutschen Staaten wieder vereinigen, bedeutet das auch die Überwindung der Spaltung Europas. Das finden wir eine ganz gute Sache." Bei der älteren Generation, die die deutsche Besatzung Belgiens noch miterlebt hatte, gab es Zweifel, so Rochtus weiter: "Natürlich sind da noch ältere Leute, die noch Erinnerungen haben, aber im Allgemeinen muss man doch sagen, dass man das sehr nüchtern auffasst - und dass wir einen Unterschied machen zwischen einem Volk, dem deutschen Volk in diesem Falle, und dem Regime, das über dieses Volk geherrscht und das Besatzungsregime in Belgien geführt hat. Also, da machen wir einen ganz großen Unterschied."
Polen und Tschechen skeptisch
Bei den östlichen Nachbarländern Polen und Tschechien herrschten zunächst auch Vorbehalte vor. Nach den politischen Umwälzungen erkannte man aber in Polen, dass Deutschland keine Ansprüche mehr gegen Polen stellte und es ernst meinte mit der europäischen Einigung, so der ehemalige polnische Botschafter in Bonn (1990-1995), Janusz Reiter: "Die Größe Deutschlands ist heute kein Grund für die Nachbarn, Angst zu haben. Das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen ist immer noch nicht ganz frei von Ambivalenz und Spannungen, aber aus anderen Gründen."
Den Polen ist die wirtschaftliche Stärke Deutschlands bewusst und sie verdienen im westlichen Nachbarland gerne ihr Geld. "Aber nur die wenigsten Polen kämen auf die Idee in Deutschland Urlaub zu machen. Nach Deutschland fährt man nicht zum Spaß", sagt der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk. "Deutschland ist nicht selbstverständlich, Deutschland ist zweideutig. Man kann Deutschland nicht aus den Augen lassen", schrieb der polnische Literat vor wenigen Wochen im Magazin Focus.
In Tschechien hatte man bis zum Ende der 1990-er Jahre Angst vor Deutschland und möglichen Ansprüchen der nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebenen Deutschen, glaubt der Prager Politologe Robert Schuster. Erst seit der gemeinsamen Erklärung der beiden Regierungen im Jahr 1998 sei eine gewisse Entspannung eingetreten. Die Erklärung habe die Wunden der Vergangenheit, Verbrechen im und nach dem Zweiten Weltkrieg angesprochen, aber auch Perspektiven für eine gemeinsame Zukunft aufgezeigt, sagt Schuster. "Man ist ja jetzt nicht mehr konkurrierend, nicht mehr verfeindet, sondern Mitglied einer Gemeinschaft, der EU. Und Mitglied in der NATO. Dieser sicherheitspolitische Aspekt sollte auch nicht unterbewertet werden", glaubt der Politikwissenschaftler. Die jungen Tschechen, die die Möglichkeit hatten, nach Deutschland zu fahren und dort zu studieren, jüngere Deutsche zu treffen, hätten sicherlich ein völlig anderes Bild der Deutschen als die Generation 50 plus.
Fußball bringt den Durchbruch
In den Niederlanden, Luxemburg, der Schweiz und Österreich gab es nach anfänglichem Abwarten Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung gegeben. Heute sind die Deutschen als zahlungskräftige Touristen in den europäischen Nachbarstaaten beliebter denn je, auch wenn das die Deutschen selbst, wie Umfragen zeigen, nicht glauben wollen. "Wir können Ossis und Wessis, also ehemalige DDR-Bürger und Westdeutsche, gar nicht mehr unterscheiden", sagt der österreichische Historiker Oliver Radkolb. Und auch der nördliche Nachbar Dänemark hat das größere Deutschland akzeptiert, so der dänische Schriftsteller Knut Römer. Natürlich hätten die Dänen die Deutschen nach der Nazi-Diktatur für viele Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht. Der Durchbruch kam aus Knut Römers Perspektive erst mit der Fußballweltmeisterschaft, die Deutschland 2006 ausrichtete: "Da merkte ich zum ersten Mal: Der Krieg ist vorbei. Das ist nichts mehr. Es ist vorüber. Und die Dänen haben zu den Deutschen gehalten."