Reportagen und europäischer Dialog
29. Dezember 2006Niemand verkündet gern Katastrophenmeldungen, schon gar nicht zur Weihnachtszeit oder am Jahresende. Das ging vor genau zehn Jahren wohl auch der italienischen Regierung so. Sie vertuschte das wohl schwerste Schiffsunglück im Mittelmeer seit Ende des Zweiten Weltkriegs. In der Nacht vom 25. auf 26. Dezember 1996 sank vor der sizilianischen Küste ein vollkommen überladenes Flüchtlingsschiff. Nur zwei Dutzend Passagiere aus Sri Lanka, Pakistan und Indien konnten sich retten. 283 ihrer Landsleute starben in jener Nacht. In Italien beginnt die juristische Aufarbeitung des Unglücks erst jetzt.
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Der überlebende Pakistaner Shahab Ahmad schilderte vor wenigen Tagen vor dem Schwurgericht im sizilianischen Syracus die schlimmsten Stunden seines Lebens. "Es war im Jahr 1996. Ich befand mich auf einem Frachtschiff und musste auf ein sehr kleines Boot umsteigen. Mit einem Mal rammte das große Schiff unser kleines Boot, das dabei zerbrach. Die Welt schien unterzugehen. Einigen von uns gelang es, sich an Seilen auf das große Schiff zu retten."
Beim Versuch, Flüchtlinge mit einem kleinen Holzboot von hoher See an die sizilianische Küste zu bringen, gab es ein schreckliches Unglück. Shahab konnte sich mit wenigen anderen aus den eisigen Fluten des Mittelmeers retten. Drei Monate war der Pakistaner bereits unterwegs gewesen, zuletzt auf einem Frachter mit Namen Yiohan in der Hand von skrupellosen Menschenhändlern, zusammen mit fast 500 Leidensgefährten, auch aus Indien und Sri Lanka. Sie hatten viel Geld bezahlt für die weite Reise nach Europa.
Die Hölle auf Erden
Doch statt nach Sizilien überzusetzen, erlebte Shahab auf dem Schiffsdeck die Hölle: "Ich sah einen Inder, der sich mit letzter Kraft am Seil hoch hangelte. Er blutete aus Mund und Nase und blieb auf dem Deck liegen. Da packten ihn die Besatzungsmitglieder und warfen ihn einfach wieder ins Meer. Auf dem Meer schwammen die Körper wie Seegras und die Stimmen der Sterbenden wurden immer leiser. Ich musste zusehen und weinte und konnte es nicht fassen, dass da ein Mensch von anderen Menschen einfach ins Wasser geworfen wurde. Ich hatte nicht die Kraft es zu verhindern. Aber ich appelliere an die italienische Regierung und die Europäische Union, den Toten zur Gerechtigkeit zu verhelfen."
283 Menschen starben damals in der Weihnachtsnacht 1996. Aber auch zehn Jahre nach dem Untergang des Flüchtlingsschiffs, 19 Seemeilen vor der sizilianischen Südküste, warten Opfer und Hinterbliebene noch auf Gerechtigkeit. Lange Zeit war das Unglücksboot nur ein Geisterschiff. Die italienische Regierung widersprach hartnäckig den dramatischen Aussagen der wenigen Überlebenden, die von dem Frachter Yiohan aufgesammelt und kurzerhand heimlich in Griechenland abgeladen worden waren. Die Fischer des italienischen Küstenortes Porto Palo und die italienischen Hafenbehörden schwiegen ebenfalls, obwohl sie genau wussten, was für eine Katastrophe da passiert war.
Aufklärung unterdrückt
Ein Fischer spricht zumindest heute darüber: "Wir alle haben damals menschliche Reste aus dem Wasser gefischt. Menschenstücke. Ich selber habe nie einen ganzen Körper gefunden aber Einzelteile schon. Und das war alles andere als angenehm. Auch wenn man sie als ganze Person nicht mehr erkennen konnte. Aber es war klar, dass es menschliche Überreste waren. Schön war das nicht."
Wahrscheinlich hätten die Fischer für alle Zeiten geschwiegen, hätte nicht einer von ihnen, Salvatore Lupo, den Mut gehabt zu reden, nachdem er den Ausweis eines der Ertrunkenen im Fischernetz fand. Das war 2001. Mit seiner Hilfe wurde endlich das Wrack geortet, doch damit begann für Salvatore Lupo ein wahres Spießrutenlaufen: "Die Behörden, die damals von unseren Leichenfunden nichts wissen wollten, haben sich aus der Affäre gezogen, indem sie uns Fischern die Schuld geben wollten. Dabei tragen die Behörden die Verantwortung dafür, dass die Sache nicht ans Licht gekommen ist."
Aufarbeitung erst zehn Jahre nach dem Unglück
Das war vor fünf Jahren. Salvatore Lupo hat längst seinen Beruf aufgegeben, im Dorf wird er von vielen gemieden. Doch inzwischen haben er, eine Gruppe von Künstlern und Journalisten die unfassbare Geschichte des Geisterschiffs von Porto Palo zum 10. Jahrestag zu einem Bühnenstück verarbeitet, das jüngst in Rom uraufgeführt wurde.
Erst jetzt, ein Jahrzehnt danach, geht die Justiz ernsthaft an die Aufklärung und die Verfolgung der Schuldigen. Und erst jetzt werden endlich Mittel zur Hebung des Schiffswracks und für die Errichtung eines Denkmals zur Verfügung gestellt. Das versprach zumindest vor wenigen Tagen Ministerpräsident Romano Prodi, der vor zehn Jahren im selben Amt von der Tragödie des Geisterschiffs nichts wissen wollte.