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Europa-Bilder aus russischer Sicht

Viktor Jerofejew26. April 2016

Verdorbenes "Gayropa" oder Vorbild? In Russland gibt es so viele verschiedene Europa-Bilder, dass es extrem schwerfällt, sich darin zurechtzufinden. Der Schriftsteller Viktor Jerofejew hat es dennoch versucht.

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Regentropfen auf einer russischen Fahne
Bild: picture alliance/chromorange

Ich werde nicht behaupten, ganz Russland gehöre zu Europa. Und, ja, wie sich Russland zu Europa verhält, ist ebenfalls keine klare Sache. Und was bedeutet Europa für Russland? Auch das ist ein weites Feld. Warum das so ist?

Weil es kein einiges Russland gibt (außer der sattsam bekannten gleichnamigen politischen Partei), sondern ein Sammelsurium russischer mentaler Strukturen, Subkulturen und Gegenkulturen, die zusammen etwas Chaotisches, Diffuses ergeben, das man Volk nennen könnte, nicht aber eine Nation mit bewusst gewählten Werten.

Genau aus diesem Grund weiß ich, dass es die falsche Frage ist, wenn jemand wissen will: "Was für ein Verhältnis haben die Russen zu ...?" In Russland sind die Meinungen in Bewegung wie Treibsand in der Wüste, und keine Soziologie wird damit fertig. Hier werden Meinungen oft geboren wie blinde Kätzchen, sie enthalten mehr dogmatische als rationale Plausibilität. Plötzliche Erkenntnisse tun sich hauptsächlich aus konkretem Anlass auf.

Europa, das sind "sie" und nicht "wir"

Da kann zum Beispiel ein gewisser Iwan Iwanowitsch Europa nicht leiden. Es macht ihn rasend. Aber dann heiratet sein Töchterchen Tanja einen sympathischen Deutschen. Und Iwan Iwanowitschs Abneigung gegenüber Europa löst sich in Luft auf. Er sieht, dass Europa gar nicht so übel ist!

Da bei uns nur wenige Menschen familiäre Beziehungen mit Europäern eingehen, will ich mich mentalen Verdichtungen zuwenden, das heißt, mehr oder weniger allgemeinen Vorstellungen dieses oder jenen Teils unserer Bevölkerung.

Es gibt mindestens vier verschiedene Vorstellungen von Europa. Sie verbindet nur eins: Praktisch alle Russen halten Europa für etwas Fremdes, nicht Vertrautes, nicht Eigenes. Europa, das sind "sie" und nicht "wir". Um Europa zu erreichen, muss man irgendwohin fahren oder fliegen.

"Ich fliege nach Berlin", sagt mein Freund in Moskau zu mir.

"Ah", sage ich, "du willst nach Europa!"

Ein anderer Freund sagt zu mir:

"Ich fliege nach Peking."

"Ah", antworte ich, "du willst nach Asien!"

Klar, wohin meine Freunde fliegen: nach Europa oder nach Asien. Unklar aber, von wo eigentlich. Moskau, das ist der Nullpunkt.

Doch wenn Europa auch allen (fast allen) Russen fremd ist, so ist es doch auf unterschiedliche Weise fremd. Russland streitet mit sich selbst darüber, ob Europa als Modell taugt - zum Nachahmen, Ablehnen, um damit zu spielen, oder ob es überhaupt als Modell existiert.

Europa als "Müllhalde von Toleranz und geistiger Verarmung"

Wer hält Europa für ein Modell zum Nachahmen? Derjenige, der es liebt, möchte dorthin reisen, darüber lesen, etwas darüber wissen. Das sind für gewöhnlich unsere heutigen "Westler": ein proeuropäisch eingestellter, recht bedeutender Teil der Intelligenzija, der Mittelschicht, der gebildeten jungen Leute. Sie sind Europa-Fans und glauben an dessen Zukunft. Viele sind bereit, für immer dorthin zu gehen. Die intensive antieuropäische Kreml-Propaganda konnte sie kaum aus dem Konzept bringen. Sie sorgen sich nur noch mehr um Europa. Doch fast alle aus dieser Gruppe möchten lieber russische Europäer bleiben, mit russischer Identität, als sich in einem gesamteuropäischen Schmelztiegel aufzulösen.

Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew
Der russische Schriftsteller Viktor JerofejewBild: privat

Zwei Arten von Russen nehmen Europa als negatives Modell wahr. Die einen, ideelle Anhänger des autoritären Regimes, kombinieren Slawophilentum und Orthodoxie mit Stalinismus und Nationalismus bis hin zu Xenophobie und Faschismus. Für sie ist Europa eine Müllhalde von Toleranz und geistiger Verarmung. Jedes Problem in Europa löst Freude bei ihnen aus. Diese heterogene Gruppe hat derzeit Oberwasser, obwohl der Kreml nur scheinbar ihr Verbündeter ist. Er braucht sie für den Kampf gegen Europa, nicht aber als Konkurrenten, die von der Macht träumen.

Die zweite Art von Antieuropäern sind Zöglinge der Herrschenden selbst. Dazu zählen sowohl ein Teil der Intelligenzija als auch ein Teil der Unternehmer sowie ein Teil der Jugend. Sie sind durchdrungen von Nationalismus und dem Glauben an die russische Welt, dies aber eher aus konformistischen und karrieristischen Überlegungen. Unter ihnen gibt es nicht wenige Beschränkte und Zyniker, doch sie halten sich für Patrioten.

Modell für ein Spiel

Europa als Modell für ein Spiel. Wie merkwürdig es auch klingen mag, aber es ist genau das, womit sich verschiedene und gar nicht dumme Leute im Kreml befassen. Sie besitzen genügend Verstand, um zu begreifen, dass gerade die europäischen Werte eine hohe Lebensqualität hervorbringen. Zugleich wissen sie, dass die europäischen Werte gegen sie arbeiten. Aber von Europa brauchen sie Autos - und nicht Ideen. So schaukeln sie munter hin und her in diesem Spiel, wie eine menschenähnliche Spezies auf Bäumen im Dschungel, und wollen das Unvereinbare miteinander vereinbaren: Europa erniedrigen, indem man mit dem Finger auf seine Krisen zeigt, es für seine gleichgeschlechtlichen Ehen verspotten und es sich im Übrigen zu Diensten sein lassen. Da fährt man mit Vergnügen nach Europa und erzählt nicht weniger vergnüglich Gemeinheiten darüber. Dieses Spiel ist faktisch zum Stil der russischen Machthaber geworden.

Und wo bleibt hier das einfache Volk? Jenes Volk, das in abgelegenen Dörfern und kleinstädtischen Ansiedlungen lebt. Es gibt viele dieser Menschen, aber man hört wenig von ihnen. Sie sind völlig verschwunden aus den Statistiken der Zustimmungswerte für die Regierenden. Welches Verhältnis haben sie zu Europa?

Selbst der Mond ist dem russischen Dorf näher als Europa

Für das einfache Volk stellt Europa ein inexistentes Modell dar. Selbst der Mond ist dem russischen Dorf näher als Europa. Und das ist verständlich: Den Mond kann man sehen. Diese Menschen haben keinen Reisepass, sie sind keine Fernreisenden. Sie glauben der Fernsehpropaganda, die in vielerlei Hinsicht auf ihrer eigenen fundamentalen archaischen Mentalität basiert. Natürlich gelangt auch dies und das aus Europa bis zu ihnen - irgendwelche Schlager, irgendwelche Klamotten, manchmal Gebrauchtwagen. Aber all das setzt sich nicht zu einem positiven Bild zusammen: Europa ist viel zu fremd!

Sie mögen wunderbare Menschen sein, aber Europäer sind sie gewiss nicht. Sicher kann man auch in angenehmen Erinnerungen schwelgen und davon erzählen, wie die russische und die europäische Kultur miteinander kommuniziert und großzügig so manches kulturelle Modell ausgetauscht haben. Und auf dieser Grundlage den Schluss ziehen, dass wir uns trotz allem sehr nahe, dass wir Verwandte, nun ja, einfach Vettern sind. Aber Hochkultur ist das eine, und hier sollte man, um einander zu verstehen, besser keine voreiligen Schlüsse ziehen.

Viktor Jerofejew ist ein russischer Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Fernsehmoderator. Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Romane "Die Moskauer Schönheit", "Der gute Stalin" und "Die Akimuden", die ins Deutsche und in viele andere Sprachen übersetzt wurden. Er ist Ritter der französischen Ehrenlegion.

Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch.