"Diese Menschen sind unsere Bürger"
2. Oktober 2019Mensur Hoti raucht Kette. In einem Café in der Hauptstadt Pristina berichtet der Direktor für die öffentliche Sicherheit des Kosovo von der Geheimoperation, die in der Nacht vom 19. auf den 20. April stattfand. Hoti trug damals die Verantwortung, als im Schatten der Dunkelheit eine Chartermaschine in Pristina landete. An Bord: 110 kosovarische Staatsbürger aus dem untergegangenen Terrorkalifat des IS, die zuletzt als Gefangene in kurdischen Lagern in Nordsyrien gelebt hatten. Noch nicht einmal die Angehörigen der Rückkehrer wussten Bescheid.
Rückkehr aus Syrien in der Nacht
Das Unternehmen zwischen allen Beteiligten zu koordinieren, habe ihn tagelang nicht schlafen lassen, erinnert sich Hoti und nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse. Sein Land unterhält keine offiziellen Beziehungen zu den Kurden des Rebellenbündnisses Demokratische Syrische Kräfte (SDF), die im Norden Syriens ein großes Gebiet kontrollieren. Es waren die USA, die diese Rückholaktion möglich machten. Die Amerikaner sind mit den Kurden verbündet und haben Truppen im Norden Syriens stationiert.
Der Flughafen von Pristina war weiträumig abgesperrt, als die 32 Frauen, 74 Kinder und vier Männer im April im Kosovo einschwebten und kurz darauf in abgedunkelten Bussen weiter transportiert wurden: die Männer in das Hochsicherheits-Gefängnis Podujeve; Frauen und Kinder zur medizinischen und psychologischen Untersuchung in das Ankunftszentrum Vranidol. "Sie waren in einem sehr schlechten Zustand, nicht nur medizinisch", berichtet Hoti. Man habe ihnen Hunger und fehlende Hygiene ansehen können.
Der kräftig gebaute Mitvierziger mit den kurz geschorenen Haaren macht sich keine Illusionen. Er weiß: Der härteste Teil der Arbeit mit den IS-Rückkehrern steht dem jüngsten Staat Europas noch bevor: "Denken Sie an die Ideologie in deren Köpfen. Es wird ein herausfordernder Prozess, mit all diesen Menschen umzugehen."
Das Kalifat im Kopf
Deutlich wird das bei der Begegnung mit Vlora. Wie die anderen Kosovo-Rückkehrer ist sie inzwischen seit einem knappen halben Jahr wieder zu Hause. Vlora ist nicht ihr richtiger Name. Den darf niemand erfahren. Wie alle anderen Rückkehrerinnen wird Vlora überwacht und steht auf dem Hof ihrer Eltern in einem kleinen kosovarischen Bauerndorf unter Hausarrest. Sie sitzt im Schatten eines Eichenbaums. Hähne krähen, eine Katze streift umher, Sonnenblumen wiegen sich im Wind. Die Szene wirkt idyllisch. Aber die zerbrochenen Fensterscheiben ihres Elternhauses zeugen von Armut.
Die anderen Frauen der Familie tragen luftige, bunte Röcke. Vlora nicht. Von ihr sieht man nur einen schmalen Augenschlitz. Der Rest der schlanken 22-Jährigen verschwindet unter einem schwarzen Vollschleier, der sie von Kopf bis Fuß verhüllt. Während des Gesprächs knetet sie unablässig ihre Hände.
Fünf Jahre hat Vlora im Terrorkalifat des sogenannten Islamischen Staats gelebt. Ihren Vollschleier, den Niqab, will sie auch zu Hause nicht ablegen. Religion spiele noch immer eine große Rolle in ihrem Leben, sagt sie, während ihr zweijähriges Kind mit viel zu großen Schuhen im Garten herumstapft. Die Familie bittet die DW, das Geschlecht des Kindes geheim zu halten, damit keine Rückschlüsse möglich sind.
Vlora und ihre drei Ehemänner
Seinen Vater wird das Kleine nie kennenlernen. "Ich war in der Nähe, als er umkam", erzählt Vlora. "Wir waren kurz vorher zusammen. Dann ging er raus und wurde von einer Rakete getroffen." Er war der zweite der drei IS-Kämpfer, die Vlora in ihrem jungen Leben geheiratet hat.
Für die Terrormiliz gestorben ist auch der Kosovare, mit dem sie als Siebzehnjährige ins IS-Gebiet gezogen war. Damals hatte Vlora ihrem Vater vorgelogen, sie wolle Urlaub in der Türkei machen. Ihr dritter Mann lebt noch und wird von kurdischen Behörden weiter in einem nordsyrischen Lager festgehalten. Er stammt vom Balkan, aber nicht aus dem Kosovo. Über ihn reden will Vlora nicht.
Als sie im April mit ihrem Kind nach Hause kam, war es so schwach, dass es noch nicht einmal stehen konnte. Die Monate im kurdischen Lager Al-Hol waren schlimm. Noch schlimmer war es zuvor in der Endphase des IS, als das Herrschaftsgebiet der Dschihadisten auf das Dorf Baghouz an der syrisch-irakischen Grenze geschrumpft war. Dort, erinnert sich Vlora, habe es am Ende nichts mehr zu essen gegeben. Zeitweise hätten sie von einer Dattel am Tag gelebt und in ihrer Not Gras gegessen.
Zwischen Reue und Ideologie
Inzwischen bezeichnet Vlora es selber als Fehler, zum IS gegangen zu sein. Doch dass gegen sie und die anderen Rückkehrerinnen im Kosovo Anklagen vorbereitet werden, versteht sie nicht. "Wir waren ja nur zu Hause und haben nichts gemacht", rechtfertigt sie sich. "Wir hatten keine schlechten Absichten und sind nur unseren Männern gefolgt." Es ist ein Argument, das bei den Frauen des IS immer wieder auftaucht.
Von den Hinrichtungen und den anderen Gräueltaten will sie nichts mitbekommen haben. Nur die Zerstörungen des Krieges, die habe sie gesehen. Vlora sieht sich vor allem selber als Opfer und hofft, dass ihr eine Haftstrafe wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung erspart bleibt. Sie wolle sich wieder in die Gesellschaft integrieren, sagt sie. Zugleich erwartet sie, "dass die Leute mich hier so annehmen, wie ich bin. Und auch akzeptieren, dass ich den Niqab trage."
Vloras Vater erfuhr im April erst durch den Anruf eines Bekannten von der Heimkehr seiner Tochter. Die Erinnerung an diesen Moment der Erleichterung treibt dem gestandenen Mann die Tränen in die Augen. Zugleich wirkt er verzweifelt. Seine Tochter lebt jetzt zwar wieder bei ihm. Aber er scheint sie nicht wirklich erreichen zu können. "Sie ist immer noch sehr verschlossen", berichtet er der DW. Früher habe sie kein Kopftuch getragen. "Jetzt ist es für mich seltsam, dass Vlora so viel betet und ihren Glauben so streng praktiziert."
Die Psychologin
Valbona Tafilaj kennt Vlora und die anderen Rückkehrerinnen. Mit einem Team von 20 Psychologen und Psychiatern begleitet sie die Rückkehrerinnen und Kinder auf ihrem Weg zurück in die kosovarische Gesellschaft. Alle seien bei ihrer Ankunft traumatisiert gewesen, sagt die quirlige Psychologin. "Sie kamen aus einem Kriegsgebiet. Sie haben grausame Verbrechen und heftige Bombardements erlebt."
Ihre Hauptaufgabe sieht Tafilaj darin, das Vertrauen der Heimkehrer zu gewinnen. Einmal im Monat besucht sie die Frauen zu Hause - auch, um die Familien und Nachbarn in den Prozess der Reintegration einzubeziehen. Für die therapeutischen Sitzungen müssen die Frauen und Kinder in das psychiatrische Zentrum der Universitätsklinik Pristina reisen. Hier hat Tafilaj ihr Büro.
Die Psychologin berichtet stolz, dass alle Kinder, die älter als sechs Jahre sind, im September eingeschult werden konnten. Zur Vorbereitung auf den Schulalltag habe es Ausflüge in Freizeitparks und Kletterhallen gegeben, um zu testen, ob die Kinder schon bereit seien für den Schulalltag. Weil ihre Mütter unter Hausarrest stehen, sind auch die Kinder in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Eine Antwort auf die Frage, ob sie eine der 32 IS-Rückkehrerinnen noch für gefährlich hält, verweigert Valbona Tafilaj. Das falle unter die ärztliche Schweigepflicht.
Der Terroristenjäger
Gibt es ein Sicherheitsrisiko? Und wenn ja, wie groß ist es? Darüber zerbricht sich auch Fatos Makolli den Kopf. Der vollbärtige Mann ist der oberste Terrorbekämpfer des Kosovo. Der kleine Balkan-Staat hat nicht einmal zwei Millionen Einwohner. Doch aus keinem anderen europäischen Land sind gemessen an der Einwohnerzahl mehr Menschen ins Terrorkalifat ausgereist - geschätzt mehr als 400.
Im Vergleich mit Deutschland sind das pro Kopf rund 20 mal so viele Dschihadisten. Aus der Bundesrepublik mit ihren 82 Millionen Einwohnern zog es etwa 1050 Extremisten ins IS-Gebiet.
Deutschland, England oder auch Frankreich sperren sich weiter nach Kräften gegen eine Rückkehr ihrer Staatsbürger aus den ehemaligen IS-Gebieten in Syrien und im Irak. Nur für Kinder gibt es – manchmal - Ausnahmen.
In seinem Büro im achten Stock des Regierungsgebäudes im Zentrum von Pristina erklärt Fatos Makolli, warum ausgerechnet sein kleines Heimatland einen anderen Weg geht. Schon im vergangenen Oktober, als das militärische Ende des selbsternannten Kalifats absehbar gewesen sei, habe man intensiv über den Umgang mit den kosovarischen IS-Anhänger beraten. Pristinas Überlegung: Die Ex-Dschihadisten würden vermutlich nicht ewig unter Aufsicht der Kurden bleiben können. Es bestehe die reale Gefahr der Flucht und des Abtauchens.
"Darum haben wir uns entschieden, sie zurückzuholen", sagt Terrorbekämpfer Makolli. "Wir sind damit bewusst ein Risiko eingegangen. Aber eines, das kontrollierbar ist. Wir kennen die Leute. Wer Verbrechen begangen hat, den stellen wir vor Gericht. Und wir tun unser Bestes, um die anderen zu reintegrieren."
Mit Gerichtsverfahren gegen islamistische Extremisten hat der Kosovo nach Makollis Angaben durchaus Erfahrung. Seit 2014 seien über 150 IS-Unterstützer verhaftet worden. Über 80 erhielten zum Teil hohe Haftstrafen.
Der arabische Faktor
Mehr als 95 Prozent der Kosovaren sind sunnitische Muslime. Traditionell folgen sie einem liberalen Islam, viele leben säkular. Doch nach dem Kosovo-Krieg 1999 wuchs der Einfluss konservativer Strömungen. Makolli macht dafür vor allem Saudi-Arabien und andere Golf-Staaten verantwortlich. Es habe die klare Absicht gegeben, "den Islam im Kosovo wiederzubeleben" und ihn über die Ausbildung von Imamen zu politisieren. Arabische Hilfsorganisationen hätten sich besonders auf die Arbeit mit Kindern gestürzt, betont der Terrorbekämpfer.
Mitte der 2000er Jahre seien die Effekte der wahabitischen und salafistischen Ideologie sichtbar geworden: "Es gab auf einmal Probleme in den Familien. Da wollten Kinder auf einmal nicht mehr mit Frauen reden und weigerten sich, an Familienfesten teilzunehmen. Sie warfen ihren Eltern vor, keine echten Muslime zu sein. "
Die hohe Arbeitslosigkeit, die fehlenden Zukunftsperspektiven für die überwiegend junge Bevölkerung und die ausufernde Korruption taten ein Übriges: Kosovo wurde zum Radikalisierungsbrennpunkt.
Vorbild Kosovo?
Mensur Hoti, der kettenrauchende Direktor für die öffentliche Sicherheit, gibt zu, dass nicht alle Kosovaren von der Rückholaktion begeistert sind: "Aber es war der einzige Weg, mit dem Problem umzugehen. Diese Menschen sind unsere Bürger. Unsere Verfassung schreibt uns vor, uns um unsere Bürger zu kümmern – egal wo sie sind."
Die deutsche Position scheint entgegengesetzt zu sein. Das Außenministerium in Berlin zieht sich bis heute auf die Argumentation zurück, dass man weder zum Assad-Regime noch zu den Kurden im Norden Syriens diplomatische Verbindungen unterhalte. Deshalb könnten keine deutschen Staatsbürger zurückgeholt werden.
Das sei für den Kosovo kein Problem gewesen, betont Hoti im Gespräch mit der DW. Wenn der politische Wille zur Rückholung da sei, könnten die logistischen Probleme gelöst werden.
So sehen es auch die USA, ohne deren Hilfe die kosovarische Rückholaktion wohl kaum möglich gewesen wäre. Die US-Regierung unter Präsident Trump drängt darauf, dass Europa seine Bürger zurücknimmt, um die Kurden von der Verantwortung zu entlasten. In der Pressemitteilung, die die US-Botschaft in Pristina nach der nächtlichen Geheimoperation am 20. April veröffentlichte, heißt es wörtlich: "Mit dieser Repatriierung hat der Kosovo ein wichtiges Beispiel für alle Mitglieder der globalen Anti-IS-Koalition und der internationalen Gemeinschaft gesetzt."