Strom am Limit
16. Oktober 2006Gehen bei uns bald die Lichter aus? Glaubt man einer neuen Studie über den europäischen Energiemarkt, dann scheinen Lieferengpässe in der Elektrizitätsversorgung nicht mehr in weiter Ferne zu liegen. Kapazitäten für die Stromerzeugung in Europa lagen im vergangenen Jahr durchschnittlich nur noch 4,8 Prozent über der Spitzennachfrage, berichtet die Unternehmens- und Technologieberatung Cap Gemini in ihrem "European Energy Markets Observatory". Diese Überkapazitätsmarge liege ein Prozent unter der von 2004 und sei die niedrigste seit mindestens zehn Jahren, heißt es in der achten Auflage des jährlich erscheinenden Reports.
Weitreichende Stromausfälle wie in den USA vor drei Jahren stehen Europa zwar nicht bevor. Trotzdem ist die Situation in einigen Ländern kritisch. So hat der heiße Sommer im vergangenen Jahr in Spanien durch den Einsatz von Klimaanlagen die Energienachfrage und die Strompreise in Rekordhöhen schnellen lassen. Eine Kältewelle, die im November 2005 Europa erfasste, hat den Energieverbrauch ebenfalls nach oben getrieben. Gleichzeitig seien fünf Atomkraftwerke in Frankreich und zwei in Deutschland nicht verfügbar gewesen, so der Bericht.
In Slowenien müssten Industriekunden im Extremfall bereits mit eingeschränkten Stromlieferungen rechnen, sagt Philippe Coquet von Cap Gemini Energy and Utilities in Paris. In Slowenien und fünf weiteren Ländern sei die Überkapazitätsmarge auf teils weit unter fünf Prozent gesunken. "In Deutschland liegt sie mit sechs Prozent noch in einem relativ sicheren Bereich", sagte Coquet gegenüber DW-WORLD.
Mehr Investitionen nötig
In seinen Lösungsvorschlägen bestätigt der Bericht im Grundsatz die Aussagen des Energiegipfels, zu dem Bundeskanzlerin Angela Merkel am 9. Oktober geladen hatte. Pläne zur Reduzierung des Strombedarfs um 20 Prozent bis zum Jahre 2020, wie in einem EU-Strategiepapier vom März vorgesehen, seien hilfreich, müssten auf nationaler Ebene aber bereits im kommenden Jahr auf den Weg gebracht werden. "Investitionen in neue Kraftwerke und das Liefernetzwerk sind dringend notwendig", so Coquet. Nach Schätzungen von Cap Gemini müssen dafür in den nächsten 25 Jahren rund 700 Milliarden Euro ausgegeben werden, davon mindestens 150 Milliarden Euro für den Bau neuer Kraftwerke in den nächsten fünf Jahren.
Den europäischen Energiemarkt hat die Bundesregierung zu einem der Schwerpunkte für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr erklärt. Ob damit Fortschritte in der Diskussion über die weitere Öffnung des europäischen Energiemarktes, mehr Wettbewerb, den grenzübergreifenden Stromhandel oder Emissionen gemacht werden, ist nicht klar.
Energiepolitik ein "Riesenchaos"
Selbst in Deutschland gebe es keine eindeutigen Vorgaben; die Energiepolitik "ist derzeit ein Riesenchaos", kritisiert Claudia Kemfert, Leiterin der Forschungsabteilung Energie am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Von Politikern auf Landes- und Bundesebene und aus verschiedenen Ministerien kämen völlig unterschiedliche politische Signale. "Die Konzerne sind verunsichert und schieben langfristige Investitionen in neue Kraftwerke auf", so Kemfert. Ohne die nötige Planungssicherheit könne ein größerer Wettbewerb durch den höheren Kostendruck die Situation sogar noch verschärfen.
Der Leidensdruck der Energieversorger dürfte sich jedoch in Grenzen halten. Durch den hohen Ölpreis und die Produktion nahe am Kapazitätslimit sind die Strompreise - und die Einnahmen - der Energieversorger stark gestiegen. "Die Konzerne haben ein Interesse daran, Überkapazitäten relativ klein zu halten", sagt Kemfert. Das bedeutet, dass eine weitere, auch nur geringfügig stärkere Stromnachfrage Lieferengpässe in Zukunft wahrscheinlicher macht. Denn der nächste Sommer mit Rekordhitze kommt bestimmt.