"Gaziantep bekommt kein Geld"
14. September 2017Deutsche Welle: Der "Flüchtlingsdeal" zwischen der Türkei und der Europäischen Union besteht seit eineinhalb Jahren. Insgesamt hat die EU der Türkei sechs Milliarden Euro als Unterstützungsgeld bis Ende 2018 zugesichert. Wie viel davon haben Sie bisher gesehen?
Fatma Sahin: Bisher kommt das Geld nicht in den Kommunen an. Die Kommunen tragen die Hauptlast im Umgang mit dieser Notsituation und ausgerechnet wir bekommen kein Geld. Ich habe das auch schon in Gesprächen in Brüssel angesprochen. Gerade hat Estland die Präsidentschaft in der EU inne. Der Premierminister Estlands war hier in Gaziantep und hat uns besucht. Er hat mir zugesichert, dass sie sich des Problems annehmen werden. Sie müssen verstehen, dass 500.000 Flüchtlinge hier für die gesamte Region eine riesen Herausforderung sind. Wir brauchen mehr Häuser, wir müssen mehr in die Infrastruktur investieren, wir brauchen mehr Grünflächen, die Müllabfuhr muss besser ausgestattet werden. Wir brauchen dringend mehr Geld.
Warum kommt das Geld ihrer Meinung nach nicht in Gaziantep an?
Ich habe das Gefühl, dass sich die Verantwortlichen in Brüssel komplett in Detailfragen verrannt haben. Sie haben das große Ganze aus den Augen verloren. Derzeit scheint es nicht den politischen Willen zu geben, das Geld fließen zu lassen. Soviel ich weiß, ist erst ein Bruchteil des versprochenen Geldes nach Ankara überwiesen worden. Anscheinend haben das Umweltministerium, das Ministerium für Städteplanung und das Erziehungsministerium Geld überwiesen bekommen. Dieses Geld muss nun schnellstmöglich nach Gaziantep kommen, damit wir Schulen bauen können, damit wir in die marode Infrastruktur investieren können.
Sie sprechen von fehlendem politischem Willen: Sehen Sie die Schuld in Ankara oder in Brüssel?
Ich will gar niemanden für diese Situation verantwortlich machen. Ich stelle nur fest, dass es derzeit innerhalb der EU eine ganze Reihe verschiedener Meinungen gibt, wie man mit der Flüchtlingskrise umgehen soll, wie man mit der Türkei umgehen soll. Ich hoffe, dass sich diese Konfusion nach den Wahlen in Deutschland wieder legt.
Lassen Sie mich die Frage anders formulieren: Glauben Sie, dass das Geld noch in Brüssel liegt, oder in Ankara?
Ein sehr geringer Teil ist wohl schon nach Ankara überwiesen worden, aber der Großteil des Geldes ist noch immer in Brüssel. Sehen Sie: In der Theorie gibt es all diese schönen Projekte in Brüssel, was man mit diesem ganzen Geld machen kann, in welche Projekte man investieren will. In der Realität gibt es keine wirkliche Übereinstimmung darüber, wie man mit diesen Projekten umgehen soll.
Sie haben gesagt, der Umgang mit der Flüchtlingskrise sei eine große Belastung für ihre Kommune. Können Sie abschätzen, wie viel Geld sie insgesamt brauchen, um die Flüchtlinge angemessen versorgen zu können?
Nehmen wir mal an, die 500.000 Flüchtlinge wären türkische Staatsbürger, um die man sich kümmern müsste. Das Finanzministerium in Ankara hätte uns dafür umgerechnet 40 Millionen Euro Soforthilfe zur Verfügung gestellt, um die Grundversorgung dieser Leute garantieren zu können. Da es sich aber nicht um türkische Staatsbürger handelt, sehen wir kein Geld. Was die gesamte Region betrifft, würde ich sagen, dass wir mindestens 200 Millionen Euro brauchen, damit wir uns auch langfristig ausreichend um diese Menschen kümmern können.
In Deutschland hat man im Rahmen der Flüchtlingskrise auch von "Willkommenskultur" gesprochen. Wie nehmen Sie das in Gaziantep wahr: Empfangen die Einheimischen die Flüchtlinge mit offenen Armen, oder sind die Menschen hier besorgt über die Neuankömmlinge?
Seit sechs Jahren versuchen wir den notleidenden Menschen aus Syrien zu helfen. Das hat hier Tradition, das ist unsere Kultur. Wenn dein Nachbar Hunger leidet, dann solltest du versuchen, deinem Nachbarn zu helfen. Ich bin der Meinung, dass wir mit unserem Verhalten zum Vorbild für die gesamte Welt geworden sind. Wir sind zum Gewissen der Welt geworden. Mal abgesehen von dieser ersten Nothilfe muss es jetzt aber um Nachhaltigkeit gehen. Um diesen Menschen auch weiterhin helfen zu können, brauchen wir dringend Hilfe. Entweder, indem wir uns die Lasten aufteilen. Oder, indem wir Syrien wieder zu einem sicheren Land machen. Dann können diese Menschen beruhigt wieder nach Hause zurückkehren.
Fatma Sahin (AKP) ist seit 2014 Bürgermeisterin der Stadt Gaziantep. Von 2011 bis 2013 war sie Familienministerin im Kabinett Erdogan.
Das Gespräch führte Daniel Heinrich.