Hoffen auf Erlöser Macron
22. Juni 2017Die EU hat stimmungsmäßig ihren Tiefpunkt bereits hinter sich. Das glaubt jedenfalls Ratspräsident Donald Tusk. Es gebe Hinweise, "dass es langsam aufwärts geht", hat Tusk in seiner Einladung geschrieben. Er dürfte wohl dabei vor allem an den klaren Wahlsieg des Proeuropäers Emmanual Macron und seiner Partei in Frankreich denken - und auf der anderen Seite an die relative Wahlschlappe der konservativen britischen Premierministerin Theresa May. Sie wollte bisher einen "harten" Brexit, sprich: einen klaren Bruch mit der EU. Jetzt ringt sie um eine Regierungsmehrheit.
Die Ausstiegsverhandlungen haben bereits begonnen, Einzelheiten stehen nicht auf der Agenda des Gipfels. Trotzdem erwarten die übrigen Staats- und Regierungschefs von London ein Zeichen, wie es um die Rechte der mehr als drei Millionen EU-Bürger steht, die heute in Großbritannien leben. London wiederum wird umgekehrt die Rechte der Briten in der EU in die Waagschale werfen. "Wir werden erläutern, wie wir die Rechte von EU-Bürgern und britischen Bürgern schützen wollen", versprach May bei ihrer Ankunft. Doch die Frage ist, was die Zusagen einer derart geschwächten Premierministerin wert sind, von der niemand weiß, ob sie noch lange im Amt bleiben wird. Spötter sprechen bereits von einer "Zombie-Regierung" in London.
Unterdessen hat der Kampf um die Beute des Brexits bereits begonnen. Die beiden in London ansässigen EU-Behörden, die Bankenaufsichtsbehörde und die Arzneimittelagentur, sollen auf den Kontinent ziehen. Jedes Land will sie haben.
Kooperation wie bei Kohl und Mitterand oder "Zerfall"
Langsam scheinen die übrigen Regierungschefs genug von den Untergangsphantasien zu haben. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in Brüssel, sie sehe "eine optimistische Stimmung". Und für sie habe "die Gestaltung der Zukunft Vorrang vor den Ausstiegsverhandlungen mit Großbritannien. Der klare Fokus muss auf der Zukunft der 27 Mitgliedstaaten liegen."
Das sieht auch Emmanuel Macron so, der zu seinem ersten regulären Gipfel nach Brüssel gekommen und zum großen Hoffnungsträger der EU geworden ist. Der 39 Jahre alte Präsident erinnert an den verstorbenen früheren Bundeskanzler Helmut Kohl, der in wenigen Tagen als erster Staatsmann überhaupt in einem europäischen Trauerakt gewürdigt werden soll: "Ich wünschte mir, wir würden zum Geist der Kooperation zurückkehren, wie er einst zwischen François Mitterrand und Helmut Kohl herrschte", schreibt Macron in einem Interview, das in mehreren europäischen Zeitungen, darunter in der "Süddeutschen Zeitung", veröffentlicht wurde. Wenn nicht, warnt Macron, drohe Europa der Zerfall. Bei seinem Eintreffen in Brüssel setzte der französische Präsident auch ein Zeichen, dass er verbreitete Globalisierungsängste der Bürger ernst nehmen will. Europa müsse sich vor denen "schützen", "die sich nicht an bestimmte Regeln halten", sagte Macron. Hintergrund ist ein Streit mit China um Stahlexporte und die Frage, ob chinesische Firmen EU-Unternehmen kaufen dürfen, umgekehrt aber nicht.
Bei der Migration hört der Spaß auf
Neue Einigkeit und Selbstvergewisserung unter den verbleibenden 27 Mitgliedern scheint in Brüssel das Gebot der Stunde. Die Frage ist aber, ob das gelingen kann.
Immer neue Anschläge und Anschlagsversuche - viele davon islamistisch motiviert - lassen die Staaten zumindest emotional zusammenrücken. Mehr Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen ist ein weiteres Thema, "bei dem das europäische Projekt neu belebt werden kann", wie die Außenbeauftragte Federica Mogherini sagte. Auch der Kampf gegen ungewollte Migration ist von gemeinsamen Interesse aller Mitgliedsstaaten. Doch bei den konkreten Schlussfolgerungen gehen die Meinungen auseinander. Die Osteuropäer sind zum Beispiel strikt dagegen, den Hauptankunftsländern Italien und Griechenland, Migranten abzunehmen. Und ein gemeinsames Asylrecht steht nach wie vor in den Sternen der EU-Agenda.
Tusk träumt von britischer Heimkehr
Der neue Star Macron will die EU, zumindest die Eurozone, weiterentwickeln und setzt dabei auch auf den traditionellen Verbündeten Deutschland. Nichts Geringeres als ein Euro-Finanzminister und ein Euro-Budget sollen es sein, und Macron drückte gleich seine Hoffnung aus, "dass sich Deutschland dem nicht verweigert". Das klingt für Merkel, zumal im Bundestagswahlkampf, allerdings zu sehr nach Transfer-Union und Schulden-Vergemeinschaftung, weshalb die Kanzlerin die hochfliegenden Pläne aus Paris auch wohlwollend, aber ausweichend kommentiert hat: Man könne darüber nachdenken. Mehr war es nicht.
Donald Tusk denkt unterdessen ebenfalls über die Zukunft der EU nach, eine EU - der 28 Mitglieder! Briten hätten ihn gefragt, ob Großbritannien irgendwann in die EU zurückkehren könne, erzählte Tusk kurz vor dem Gipfel. Und er habe ihnen gesagt, die EU sei auf Träumen errichtet, die unmöglich zu erreichen schienen. Und: "You may say I'm a dreamer, but I'm not the only one" ("Ihr könnt mich einen Träumer nennen, aber ich bin nicht der einzige"), so Tusk in Anlehnung an John Lennons Lied "Imagine" - "Stellt euch mal vor...".