EU-Gipfel spricht von "Obergrenze"
17. März 2016Zum zweiten Mal innerhalb von elf Tagen treffen sich die 28 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel mit dem türkischen Ministerpräsidenten. Wieder geht es darum, eine Vereinbarung über die Rücknahme und Umsiedlung von Flüchtlingen und Migranten auszuhandeln. Es ist bereits der neunte EU-Gipfel, der seit April 2015 versucht, der Flüchtlingskrise Herr zu werden. Ob es diesmal gelingt, ist nach der Einschätzung von EU-Ratspräsident Donald Tusk immer noch offen. "Ich bin eher vorsichtig als optimistisch", sagte Tusk, der in den letzten Tagen Vorgespräche in der Türkei und auf Zypern geführt hatte.
Der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, sagte kurz vor Beginn des Gipfeltreffens, nationale Alleingänge seien auf Dauer nicht zielführend. Gemeint war wohl die Schließung der Balkanroute vor vier Wochen. "Ich bin der Meinung, dass wir uns auf einem guten Weg befinden, weil wir sehen, dass sich die Erkenntnis bei allen durchsetzt, dass diese Flüchtlingskrise nur eine Antwort erhalten kann, und zwar eine europäische." Für diese "europäische" Lösung, die alle 28 Mitgliedsstaaten mittragen können, kämpft weiterhin auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie will die übrigen Regierungschefs am Abend auf eine gemeinsame Haltung gegenüber der Türkei einschwören. Am Freitag soll dann der türkische Ministerpräsident Ahmed Davutoglu überzeugt werden.
Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, warnte die Gipfel-Teilnehmer noch einmal eindringlich davor, aus der Reihe zu tanzen. Es sei klar, dass ein Abkommen mit der Türkei nur Sinn habe, wenn alle 28 Staaten Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufnehmen. "Auch wenn wir mit der Türkei zu einer Übereinstimmung kommen sollten, funktioniert das nur, wenn wir anschließend auch umverteilen und umsiedeln können", sagte Schulz vor Reportern in Brüssel. Diese Lastenteilung lehnen einige Mitgliedsstaaten unverändert ab.
Widerstand hat viele Gründe
Luxemburg hat grundsätzliche rechtliche Bedenken gegen eine Rückführung von Flüchtlingen und Migranten aus Griechenland in die Türkei. Frankreich, Spanien und Ungarn argumentieren, man dürfe sich nicht abhängig machen von der Türkei. Österreich führt an, die Schließung der Balkanroute reiche als Lösung aus. Die noch ankommenden Flüchtlinge könnten in Griechenland versorgt werden, eine Rückführung in die Türkei sei gar nicht nötig. Viele Mitgliedsstaaten sehen den von der Türkei geforderten visafreien Reiseverkehr für türkische Staatsbürger sehr skeptisch. Zypern droht sogar mit einem Veto gegen die Vertiefung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. All diese Punkte sollen am Donnerstagabend bei einem Abendessen geklärt werden, das sich nach Einschätzung von EU-Diplomaten wieder einmal bis in die frühen Morgenstunden ziehen dürfte.
"Wir müssen einen Deal finden. Es gibt keine Alternative", sagte der niederländische Premier Marc Rutte beim Betreten des EU-Ratsgebäudes. Die Situation der Flüchtlinge in Griechenland werde immer schlimmer. Das Durchwinken auf dem Balkan sei zwar vorbei, doch jetzt müsse man die Konsequenzen ziehen und Flüchtlinge verteilen.
Wenig konkrete Angebote
Der Entwurf des Gipfelbeschlusses, der in Brüssel bereits bekannt wurde, sieht derzeit sehr weiche und interpretationsfähige Formulierungen vor. Der Türkei wird darin nur in Aussicht gestellt, für die Rücknahme aller Flüchtlinge aus Griechenland irgendwann die gewünschten Gegenleistungen zu erhalten. Eine Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen soll lediglich geprüft werden. Die Visa-Erleichterungen werden an eine Vielzahl von Bedingungen geknüpft. Ein türkischer Diplomat, der nicht genannt werden will, sagte in Brüssel, er gehe davon aus, dass trotzdem eine Einigung mit der EU möglich sein könnte.
Ist das eine Obergrenze?
Außerdem taucht in den "Schlussfolgerungen", dem Entwurf des Abschlusspapiers des Gipfels, erstmals so etwas wie eine Obergrenze für die Flüchtlingsverteilung auf. 72.000 Personen sollen demnach aus der Türkei nach einem "freiwilligen" Schlüssel auf die EU-Staaten verteilt werden. Das würde 72.000 syrische Flüchtlinge betreffen, die sich in der Türkei aufhalten. Für jeden Flüchtling aus Syrien, den die Türkei aus Griechenland künftig zurücknimmt, will sie einen Flüchtling aus der Türkei abgeben. Dieses von der Menschenrechts-Organisation Amnesty International als "Flüchtlingshandel" gebrandmarkte Verfahren soll, so heißt es in den EU-Papieren, bei 72.000 Personen gedeckelt werden. Danach müsste dann neu verhandelt werden.
Der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sieht ähnlich wie Bundeskanzlerin Angela Merkel den Flüchtlingsaustausch als eine Chance, den Schlepperbanden, die Flüchtlinge und Migranten über die Ägäis nach Griechenland schaffen, das Handwerk zu legen. Schulz meinte, die Flüchtlinge hätten eine große Chance aus der Türkei legal in die EU umverteilt zu werden. "Wenn sich herumspricht, dass dies schneller geht, als sich in die Hände von Schlepperbanden zu begeben, dann hat das einen doppelten Effekt. Es ist ein Schlag gegen diese kriminellen Banden und es ist ein Stück mehr Schutz für die Flüchtlinge." EU-Diplomaten rechnen allerdings anders. Bei 2,7 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei und einem Umsiedlungskontingent von 72.000 liegt die Chance, nach Europa zu gelangen, bei 2,6 Prozent.