EU-Gipfel: Krisenherde überall
1. Oktober 2020Ratspräsident Charles Michel ist aus der Corona-Quarantäne zurückgekehrt und hat für den um eine Woche verschobenen Gipfel einen hochfliegenden Einladungsbrief an die EU-Regierungschefs geschrieben: Es gehe um Europas Platz in der Welt und "wie wir unser eigenes Schicksal gestalten" können. Die EU versucht seit einiger Zeit, ihre strategischen Abhängigkeiten zu verringern, vor allem gegenüber China. Tatsächlich geht es bei diesem Treffen vor allem um alltägliche Krisenbewältigung in der Außenpolitik.
Türkei - alle Optionen, auch Sanktionen
Die Spannungen mit der Türkei schienen noch vor Wochen kurz vor dem Siedepunkt: Griechische und französische Kriegsschiffe standen türkischen Fregatten feuerbereit gegenüber und Beobachter sprachen von Kriegsgefahr. Die Türkei beförderte den Streit um die Bohrungsrechte für Gas und Öl im östlichen Mittelmeer plötzlich in aggressiver Form durch Probebohrungen in umstrittenen Gebieten. Athen und Paris forderten Sanktionen gegen Ankara, die Situation war explosiv.
Es geht um historische internationale Verträge, wonach Griechenland der maritime Wirtschaftsraum um seine zahlreichen Inseln fast ausschließlich zusteht. Inzwischen ist es unter anderem durch Vermittlung der Bundesregierung gelungen, die Lage zu deeskalieren, und die griechische wie die türkische Regierung erklärten sich verhandlungsbereit.
Als Leidtragender sieht sich dabei Zypern: Präsident Recep Tayyip Erdogan lässt vor der Küste des international nicht anerkannten, türkisch besetzten Nordzypern nach Gas bohren. Die Regierung in Nikosia vermisst die Solidarität der EU und blockiert im Gegenzug die Sanktionen gegen das Regime in Belarus, um so Strafen gegen die Türkei zu erzwingen.
"Diplomatisch auf Distanz"
Wie die anderen EU-Länder die Zyprioten zum Einlenken bewegen wollen, ist noch nicht deutlich. Aber EU-Diplomaten hoffen auf eine Lösung. Sie bestätigen auch, dass alle Optionen gegenüber Ankara auf dem Tisch lägen. Allerdings gelten unmittelbare Sanktionen derzeit als unwahrscheinlich. Obwohl die türkische Einmischung auch den jüngsten Krisenherd zusätzlich anheizt, nämlich den militärischen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Enklave Berg-Karabach. Auch hier setzt die EU zunächst auf Deeskalation und sucht Verhandlungen.
Die Türkei habe in der Flüchtlingskrise schon getestet, wie hartes außenpolitisches Auftreten die EU in die Knie zwingen könne, schreibt der frühere EU-Botschafter in der Türkei, Marc Pierini für Carnegie Europe. Die EU müsse demgegenüber an ihren Grundsätzen festhalten, die militärische Aufsicht unter die Obhut der NATO stellen und diplomatisch Distanz halten. Denn Präsident Erdogan mit seinem konstanten Kollisionskurs finde sich inzwischen international isoliert und könne vielleicht den Nutzen von Kompromissen sehen.
Schwierige Partner
Auf der Tagesordnung steht auch die Debatte mit den 27 über die jüngsten Gespräche der EU-Spitze mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Auch wenn Deutschland am Ziel eines Investitionsabkommens bis Ende des Jahres noch formell festhält, erscheinen die Chancen gering. Die EU machte ihre Kritik an Menschenrechtsverletzungen in China deutlicher als früher und Peking reagierte verärgert.
Man wolle ein Verhältnis, das mehr auf Gegenseitigkeit beruhe, bekräftigte Charles Michel noch einmal vor dem Gipfeltreffen. Dass die chinesische Seite in der EU Rechte beansprucht, die sie europäischen Unternehmen nicht gewährt, führt zunehmend zu Verärgerung in Europa. Und das Klima bei der Videokonferenz mit Peking schien kühl. Dennoch ist die EU hier ziemlich weit davon entfernt, mit einer Stimme zu sprechen, wie die Bundeskanzlerin zuletzt wieder gefordert hatte. Deutschland hat besonders enge Wirtschaftsbeziehungen und Ungarn oder Griechenland etwa buhlen um chinesische Investitionen.
Zur Reihe der schwierigen Partner gehört auch Russland: Die Regierungschefs planen eine gemeinsame Erklärung zum Giftanschlag auf den Regimekritiker Alexej Nawalny. Wobei einige Mitgliedsländer erneut Deutschland auffordern dürften, das Projekt Nord Stream 2 auf Eis zu legen, um Moskau wirtschaftlich für den Einsatz des verbotenen Kampfstoffs Nowitschok zu bestrafen.
Dicke Bretter bohren
Bei der Diskussion über die Lage in Belarus wird die EU ihren Balanceakt fortsetzen: Sie will zwar die Protestbewegung im Land unterstützen, anderseits aber den Anschein der Einmischung in die Politik des Landes vermeiden. Dabei wissen die Europäer, dass sie wenig konkrete Optionen haben, Druck auf Noch-Machthaber Alexander Lukaschenko auszuüben. Im Gegenteil: Zu kühne Positionen könnten ihn eher in seiner Macht bestärken, weil Moskau sich dadurch provoziert fühlen würde.
Es wird ein langer und mühsamer Abend für die EU-Regierungschefs, die in der Außenpolitik dicke Bretter werden bohren müssen und doch wissen, dass wenig vorzeigbare Erfolge zu erwarten sind. Ihre Machtlosigkeit angesichts des bestehenden Zwangs zur Einstimmigkeit wurde ihnen schließlich dramatisch durch das kleine Mitgliedsland Zypern vor Augen geführt. Beteiligte wie Beobachter empfanden die Blockade der Belarus-Sanktionen als spezielle Schande.
Und zum Schluss noch eine Fußnote zum Brexit: Die Mitgliedsländer werden über die Fortschritte - oder deren Fehlen - bei den Verhandlungen mit Großbritannien über ein Handelsabkommen unterrichtet. Dabei aber gibt man sich betont cool und unaufgeregt: Die ersten Entscheidungen dazu stehen schließlich erst beim nächsten Gipfeltreffen in zwei Wochen an.