Frust bei Brexit-Gesprächen
24. April 2020EU-Chefunterhändler Michel Barnier zeigt offen seine Frustration: Großbritannien könne doch nicht einerseits ablehnen, die Übergangszeit für den Brexit zu verlängern und gleichzeitig die Diskussionen über wichtige Punkte in den Verhandlungen verlangsamen. Die ganze Woche hatte der Franzose Barnier damit verbracht, in virtuellen Verhandlungen mit Vertretern der britischen Regierung über das künftige wirtschaftliche Verhältnis zu sprechen. Es war erst die zweite Gesprächsrunde seit dem Start Anfang März. Die Corona-Krise kam dazwischen. Aber trotz des Zeitdrucks geht es nicht voran, sagt die EU.
Die wichtigsten Fragen sind offen
Verhandelt wird mit mehreren Teams parallel über alle Themenbereiche. Aber bislang fehlt jeder Fortschritt in den Fragen, die für die Europäische Union besonders wichtig sind. Dazu gehören die fairen Wettbewerbsbedingungen, die rechtliche Aufsicht über das Abkommen, die Sicherheitszusammenarbeit und die Fischerei. Alles hängt hier mit allem zusammen, aber ganz oben steht zunächst der faire Wettbewerb.
Dazu gehören unter anderem Arbeitsbedingungen, Klimaschutz, Staatshilfen, Besteuerung. Die EU will, dass sich die Regierung in London zu bestimmten Standards verpflichten. Die Briten wiederum erklären, dass sie als souveräner Staat ihre Bedingungen selbst festlegen. Die EU wendet ein, dass die Wirtschaftsräume eng verflochten seien und Großbritannien vor der Tür der Europäer liege. "Es ist geografisch etwas anderes als Kanada", sagen EU-Diplomaten an diesem Punkt. Der britische Premier Boris Johnson dagegen will ein Freihandelsabkommen nach dem Muster EU-Kanada mit nur geringen Pflichten. In dieser Frage scheint sich nichts zu bewegen.
Wenn es aber keine Bewegung beim "fairen Wettbewerb" gibt, dann könnte man die Gespräche praktisch auch einstellen, heißt es aus Brüssel - was Barnier selbstverständlich nicht tut. Stattdessen betont er immer wieder, dass man alles versuchen werde, um bis Jahresende ein vernünftiges, ausgewogenes Abkommen zu erreichen. "Noch nie war der Zeitrahmen für ein solches Abkommen so eng", klagt der Franzose, "die Uhr tickt". Das tut sie schon seit Jahren, seit dem Beginn der Scheidungsverhandlungen, man hat derzeit ein starkes Déjà-vu-Gefühl.
Rückkehr der Rosinenpickerei
Aus den Verhandlungen wird berichtet, dass die Briten nur über die Themen redeten, sie sie interessieren. Und das sei vor allem das Handelsabkommen über Güter. Alles andere, wie Fisch, den rechtliche Rahmen und den fairen Wettbewerb, ließen sie links liegen. Es ist, wenn man so will, die Rückkehr der britischen "Rosinenpickerei", die schon die Gespräche über das Scheidungsabkommen vergiftet hatte. "Wir brauchen Fortschritt parallel bei allen Themen", mahnt dagegen Michel Barnier. Es werde am Ende kein Teilabkommen nur über einzelne Aspekte geben.
Und dazu gehört eine "ausgeglichene, langfristige und nachhaltige Lösung für die Fischereifrage". Ohne sie gebe es kein Handelsabkommen, versichert der EU-Unterhändler einmal mehr. Zwar stellt auf beiden Seiten des Ärmelkanals die Fischerei nur einen winzigen Bruchteil des Nationaleinkommens, aber sie hat überragende politische Bedeutung. Für die Europäische Union ist der geregelte Zugang zu britischen Fischgründen genauso unabdingbar, wie für die Briten die Kontrolle darüber. An wen sollten britische Fischer aber ihren Fang verkaufen, wenn nicht an Abnehmer in der EU? Auch hier drehen sich die Gespräche offenbar im Kreise.
Frustriert ist Michel Barnier auch deshalb, weil die EU mit 350 Seiten Rechtstext einen Vorschlag für ein umfassendes Abkommen auf den Tisch gelegt hat. Die Briten dagegen haben nur Teiltexte geliefert und verpflichten die Unterhändler zur Geheimhaltung. Das macht dem Franzosen das Leben schwer, denn Transparenz war bisher seine Trumpfkarte: Weil er immer alle EU-Regierungen über den Stand der Gespräche informierte, konnte er die Mitgliedsländer und ihre Interessen zusammen halten.
Eine Frage des Vertrauens
Und schließlich beklagt sich Barnier darüber, dass die Briten bisher keine Signale senden, dass sie den Nordirland-Teil aus dem Scheidungsabkommen wirklich einhalten werden. Der britische Premier hatte ja noch Anfang des Jahres geleugnet, dass es dort physische Genzkontrollen geben werde. Der EU-Vertreter mahnt dagegen, die Vorbereitungen für die nötigen Tierhygiene und Lebensmittelkontrollen auf der britischen Seite müssten jetzt getroffen werden, damit sie bei Transporten nach Nordirland - die dann frei weiter fahren könnten in die Republik Irland und damit in die EU - ab 1. Januar 2021 beginnen können. "Das kann man nicht erst im November machen", sagt Michel Barnier, "es ist eine Frage des Vertrauens".
Aber auch in anderen Bereichen scheint das Vertrauen zu fehlen - etwa bei Demokratie und Menschenrechten: Hier wolle es die britische Seite bei vagen Zusicherungen belassen. Die EU verlangt vertragliche Festlegungen, weil es sonst keine Justiz- und Sicherheitszusammenarbeit geben könne.
Im Juni soll es ein Treffen auf Regierungsebene geben, um zu überprüfen, ob man genug Fortschritt gemacht habe. Bis Ende Juni müsste die Verlängerung der Übergangszeit beantragt sein. Bis dahin gibt es nur noch zwei Verhandlungsrunden, eine im Mai, ein zweite drei Wochen später. Barnier fordert "greifbare Fortschritte", Aber so wie die Gespräche bisher laufen, scheint das unwahrscheinlich.
Was ist die britische Strategie?
Was will die britische Regierung? Außer dass sie eine Verlängerung in scharfen Worten abgelehnt hat, gibt es keinen Aufschluss über das Endspiel in London. Boris Johnson muss sich noch von seiner Corona-Erkrankung erholen und seine Regierung steht unter Druck. Auch in Großbritannien mehren sich die Stimmen - sogar unter den Brexit-Befürwortern - die für eine Verlängerung plädieren. Man könne der Wirtschaft nicht den doppelten Schock der Corona-bedingten Rezession und eines mutmaßlich ungeregelten Brexits zumuten, sagen Kritiker.
Bisher aber ist eine totale Blockadehaltung zu EU-Regeln und Rechtsrahmen alles, was die britische Seite mit an den Verhandlungstisch bringt. Es sieht so aus, als ob Premier Johnson weiter auf einen harten Brexit Ende des Jahres zusteuert. Er hat noch zwei Monate Zeit sich anders zu entscheiden, und ob er das tut, hängt vermutlich davon ab, wie tief die britische Wirtschaft in den Abgrund stürzt. Man wird mehr wissen, wenn die Corona-Krise abflaut und das Ausmaß des Schadens sichtbar wird.