Estland auf neuen technologischen Wegen
15. Oktober 2005Das Café Moskva ist eines der angesagtesten Cafés in Tallinns mittelalterlicher Altstadt. Es ist wohl die Mischung aus retro-sowjetischem Charme und minimalistischem Design, die bei den jungen Esten so gut ankommt. Wie in den meisten Cafés der Hauptstadt gibt es auch hier kabellosen Internet-Zugang. Und anstatt beim Kaffeetrinken Zeitung zu lesen, sitzen die jungen Esten hier an ihren Laptops.
Außer in der Sauna
Jan Hansonet, ein 33-jähriger Architekt, liest gerade seine E-Mails und erledigt noch schnell ein paar Überweisungen. "Internet brauche ich überall und deshalb habe ich WIFI - das heißt kabellosen Internet-Zugang. Zu Hause und auch bei der Arbeit habe ich Zugang zum Internet. Wenn ich in die Sauna gehe oder zum Skifahren natürlich nicht, aber sonst habe ich immer meinen Computer dabei. Ich denke, es hängt schon vom Job ab, aber als Architekt hat man seinen Computer immer bei sich", sagt der Mann.
Die Mehrheit der Esten regelt, so wie Jan, ihre Finanzen online. 2004 gaben 76 Prozent der Esten ihre Steuererklärung online ab. Eine digitale Signatur ersetzt die Unterschrift. Eine überraschende Internet-Revolution für dieses kleine baltische Land. Vor kaum mehr als zehn Jahren konnte es schließlich bis zu vier Jahre dauern, einen Telefonanschluss zu bekommen.
Vorbildliche Finnen
Für den rasanten Fortschritt gibt es mehrere Gründe: zunächst geographisch. Estland ist klein und so war es relativ einfach, das Internet im ganzen Land einzuführen. Nach dem Ende der Sowjetherrschaft 1991 gab es die Möglichkeit, die Einführung der neuen Technologien richtig zu beschleunigen. Vorbild und Förderer waren die benachbarten Skandinavier, insbesondere die Finnen.
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Aber vielleicht noch wichtiger war der starke politische Wille der estnischen Regierungen, so Professor Ivar Tallo, eine der treibenden Kräfte der estnischen Internet-Revolution. Die Entwicklung der Kommunikationstechnik in Estland sei, so Tallo, ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig Politik sein könne. "Die estnische Regierung hat sich immer konsequent um die Förderung der Kommunikationstechnik bemüht, und das nicht nur mit Worten, sondern auch mit den notwendigen Ressourcen. Jedes Jahr - und das seit über zehn Jahren - investiert die estnische Regierung ein Prozent des nationalen Budgets in die Entwicklung des Internets", sagt der Professor.
700 öffentliche Internet-Zugänge im Land
Ivar Tallo zeigt stolz auf eine Karte Estlands, die alle öffentlichen Internet-Zugänge im Land verzeichnet. Auch in strukturell schwächeren Regionen soll sich jeder informieren können. Deshalb gibt es über das ganze Land verteilt 700 öffentliche Internet-Zugänge.
Die digitale Revolution in Estland geht noch weiter. Jeden Donnerstag treffen sich die Minister zur Kabinettssitzung. Nur sitzen Sie nicht vor Aktenbergen, sondern vor Flachbildschirmen. Texte werden online verfasst und auf eine große Leinwand projiziert. Abgestimmt wird per Mausklick.
Auch die Regierung spart Zeit und Geld
Tex Vertman war einer der ersten IT-Berater der estnischen Regierung. Die Online-Regierungssitzungen, so schildert er, sparen nicht nur viel Zeit, sondern auch eine Menge Geld: "Die estnische Regierung spart pro Jahr 200.000 bis 300.000 Euro - nur an Kopier- und Papierkosten. Außerdem wird Zeit gespart, und wenn ein Minister zum Beispiel im Ausland unterwegs ist, kann er sich immer per Laptop ins System einloggen und virtuell an der Sitzung teilnehmen."
"E-Government" hat viele Vorteile, schildert der ehemalige Universitätsprofessor Ivar Tallo, der sogar eine "E-Governance Akademie" gegründet hat. Es ist nicht nur schneller und günstiger, sondern auch effizienter. Regierungsstellen können besser vernetzt arbeiten und die Entscheidungsprozesse werden für den Bürger transparenter.
Natürlich birgt das Online-Leben Gefahren, und die sollte man nicht ignorieren, räumt Ivar Tallo ein: "Je mehr online gemacht wird, desto größer sind die Gefahren des Identitätsklauens durch Hacker. Aber wir hören ja auch nicht auf, Elektrizität zu nutzen, obwohl gelegentlich jemand in die Steckdose greift und dabei stirbt. Wie viele Menschen sterben jährlich in Autounfällen? Und trotzdem werden ständig neue Autos gebaut und verkauft. Also, in der elektronischen Welt ist das ähnlich. Wenn man vorsichtig ist und sich an gewisse Regeln hält, ist das Internet sicher."
Wahl per Klick
Das hören die Internet-freudigen Esten gern. Am Sonntag (16.10.2005) werden sie zum ersten Mal bei Lokalwahlen übers Internet wählen können. Tallo zweifelt zwar, dass die Wahlbeteiligung steigen wird, aber die neue Technologie könnte insbesondere junge Menschen zum Wählen motivieren.