Eskalation der anti-amerikanischen Proteste in Afghanistan
12. Mai 2005Steine fliegen auf amerikanische Militärkonvois, Häuser werden in Brand gesetzt, Scheiben gehen zu Bruch: Die Straßen von Dschalalabad, unweit der pakistanischen Grenze im Osten Afghanistans, verwandelten sich wie im Handumdrehen in ein Schlachtfeld. Rufe wie "Tod den Amerikanern" und "Tod Bush" ertönten. Die Reaktion der mit den USA verbündeten afghanischen Sicherheitskräfte folgte umgehend: Es wurde scharf geschossen, mehrere Menschen starben.
Auslöser der Proteste waren Nachrichten über angebliche Koran-Schändungen im amerikanischen Gefangenenlager Guantanamo, die das Magazin "Newsweek" veröffentlicht hatte und die bisher noch nicht offiziell dementiert worden sind. Demnach sollen Koran-Exemplare in Toiletten auf Guantanamo hinuntergespült worden sein. Diese Art von Meldungen sorgte auch in Kabul und anderen Teilen Afghanistans für Proteste, die allerdings längst nicht so stark eskalierten wie die in Dschalalabad.
Studenten wollten friedlich protestieren
Doch auch dort sollten die Proteste eigentlich friedlich verlaufen, beteuert ein Teilnehmer der Demonstration vom Mittwoch (11.5.) gegenüber der Deutschen Welle. Der Student Habibur-Rahman sagt, die Demonstration sei angemeldet und genehmigt gewesen. Er und seine Mitstudenten seien für die Randale keineswegs verantwortlich zu machen. "Wir Studenten haben das nicht getan! Vielleicht waren es afghanische Behörden selbst - oder andere Kräfte", sagt der Student. "Wir wollten, dass diejenigen, die unser Heiliges Buch entweiht haben, vor Gericht gestellt und den Muslimen übergeben werden." Außerdem wollten sie ihre Ablehnung gegen eine dauerhafte amerikanische Präsenz deutlich machen.
Augenzeugen bestätigen, dass die Demonstranten sich nicht nur aus Studenten zusammensetzten. Auch viele Menschen aus benachbarten Dörfern seien hinzugekommen. Waren die Protestierer möglicherweise von interessierten Kräften gezielt zur Gewalt angestiftet worden?
Ungewöhnliche Gewaltbereitschaft
Einiges spricht dafür. Nicht wenige Beobachter wundern sich nämlich über die Gewaltbereitschaft der Menge. Denn im Osten Afghanistans hat Präsident Hamid Karsai eigentlich einen besseren Rückhalt als in vielen anderen Provinzen des Landes. Sein Gegenspieler in Dschalalabad ist der korrupte Gouverneur der Provinz Nengahar, der in der Bevölkerung insgesamt eher unpopulär ist. Laut Gerüchten strebt die Zentralregierung die Absetzung dieses Gouverneurs an. Mehrere von der Deutsche Welle kontaktierte Demonstranten und Beobachter der Proteste gehen davon aus, dass der Gewaltausbruch von ihm nahestehenden Kräften inszeniert wurde, um die Pläne der Regierung in Kabul zu durchkreuzen und Karsais Einfluss von Dschalalabad fernzuhalten.
Der Student Habibur-Rahman zum Beispiel betont, dass er und seine jungen Mitdemonstranten überhaupt nichts gegen die Regierung in Kabul einzuwenden hätten. Der Gewaltausbruch, so sagt er, schade vielmehr den Interessen der Demonstranten. Diese Version wird in der Tendenz auch von dem örtlichen Journalisten Mirghulam Talasch bestätigt. Er will vorsichtshalber keine Namen nennen. Die Demonstration sei zu Beginn friedlich verlaufen. Talasch spricht von einem organisierten und geplanten Gewaltakt, ohne jedoch konkret zu werden. Die Angst vor Racheakten ist offenbar groß.
Karsai im Osten ohne Einfluss
Insgesamt ist die Zentralregierung unter Karsai im Osten Afghanistans zwar nicht unbeliebt, aber weitgehend ohne Einfluss. Lokale Kommandanten und ehemalige Mujaheddin halten dort nach wie vor die Macht in ihren Händen. Zudem ist der Einfluss von radikal-islamistischen Gruppierungen insbesondere an Universitäten und Schulen nicht zu unterschätzen. Sie können mit religiösen Parolen immer wieder schnell junge Leute für ihre Zwecke einspannen. Trotzdem gilt die Region nicht als Taliban-Hochburg. Vielmehr haben dort andere extremistische Gruppierungen großen Einfluss.
Insgesamt wünsche eine Mehrheit der Bevölkerung aber, dass die lokalen Machthaber und Warlords entmachtet werden, glaubt Talasch. Und trotz der Empörung über die angebliche Koran-Schändung würden die Amerikaner in der Region keineswegs nur negativ gesehen. "Die Leute sind insgesamt sogar eigentlich einverstanden mit der jetzigen Präsenz und mit den Wiederaufbauhilfen der Amerikaner."
Nicht alle sind gegen die Amerikaner
Viele Menschen wüssten nämlich ganz genau, dass nach einem Abzug der internationalen Truppen ein Bürgerkrieg ausbrechen könnte, sagt Talasch. Das wünsche sich eigentlich niemand nach 23 Jahren Krieg. Die herrschende Schicht in Jalalabad und in den benachbarten Städten wolle aber verhindern, dass die Macht der mit den USA verbündeten Zentralregierung in der Region Fuß fassen könnte. Allein schon, weil dies neben der eigenen Machtposition der lokalen Machthaber auch den lukrativen Handel mit Drogen stark beeinträchtigen könnte.
Auch weitere Beobachter vor Ort, die ungenannt bleiben möchten, meinen, dass die Ausschreitungen vom Mittwoch (11.5.) gezielt gesteuert wurden, um Karsai davor zu warnen, sich in personelle oder andere Fragen der Region einzumischen. Dass die Amerikaner möglicherweise erneut sehr grob die Gefühle von afghanischen Muslimen verletzt haben, sei ein idealer Vorwand gewesen. Der verständliche Zorn darüber lasse sich bestens instrumentalisieren.