Erneut Proteste für ein anderes Kolumbien
28. Mai 2021Wenn an diesem Freitag, genau einen Monat nach den ersten Protesten, Kolumbianerinnen und Kolumbianer zur wahrscheinlich größten Demonstration auf die Straße gehen, sind "L", "Äuglein" und die "Dünne", wie sie sich untereinander nennen, selbstverständlich dabei.
Und nicht nur das: Sie marschieren ganz vorne, direkt im Visier der Polizei und der gefürchteten Spezialeinheit ESMAD, ihr Name "Mütter in der ersten Linie" kommt ja nicht von ungefähr. Sie singen: "Wenn unsere Kinder demonstrieren und in den Kampf ziehen, werden wir Mütter sie unterstützen und mit ihnen kämpfen."
Der Schlachtruf der 14 Mütter in der Hauptstadt Bogotá klingt martialisch, aber vielleicht trifft er ziemlich gut, wie in Kolumbien friedliche Demonstrationen einiger weniger gegen eine Steuerreform in kürzester Zeit zu einer riesigen Protestbewegung und einem Straßenkampf mit mehr als 40 Toten mutiert sind.
Auf der einen Seite eine Gesellschaft, welche die riesigen Einkommensunterschiede gründlich satt hat, nicht mehr in einem Land leben will, in dem eine kleine Elite über die Köpfe aller entscheidet und die grassierende Armut, Korruption und Perspektivlosigkeit anprangert. Auf der anderen Seite ein Staat, der entschieden hat, die Proteste so niederzuknüppeln, wie er das in 50 Jahren Bürgerkrieg gelernt hat: mit Härte und teils maßloser Gewalt.
"Mütter in der ersten Linie" trotzen den Drohungen
"Wir sind Frauen aus allen Schichten, von der Tangolehrerin bis zur Hausfrau, von 18 bis 38 Jahren. Aber wir sind alle Mütter. Wie protestieren jeden Tag, weil unsere Kinder und die Gesellschaft einfach am Limit sind", sagt eine Mutter, die ihren Namen lieber nicht preisgeben will.
Erkennungszeichen der Gruppe ist ein schwarzes Schutzschild mit weißer Aufschrift; mit ihren blauen Helmen und ihren Gasmasken gegen das Tränengas wirken die Mütter, als würden sie mitten in Bogotá in den Krieg ziehen.
"Wenn sie eine von uns attackieren, attackieren sie uns alle", lautet ihr Motto, und das gilt nicht nur bei den Protesten, sondern auch angesichts der Vorwürfe, hier würden sich einige Hausfrauen gegen Bezahlung instrumentalisieren lassen. Ihre Angst haben sie abgelegt, Drohungen werden ignoriert.
Die Polizisten, sagen sie, hätten ja schließlich auch Mütter. Sie wollen so lange demonstrieren, bis sich in Kolumbien endlich etwas ändert: "Wir wollen keine halbgaren Reformen bei der Bildung oder im Gesundheitswesen, die ihren Namen nicht verdienen. Sondern endlich ein Leben in Würde."
Durch Corona geht die Schere noch weiter auseinander
Mar Tello Sánchez kann die Mütter gut verstehen, dabei gehört sie eigentlich zu denjenigen, die in Kolumbien auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Schule, Universität, Abschluss als Kommunikationswissenschaftlerin und mit gerade einmal 26 Jahren eine Anstellung im Sekretariat für Infrastruktur der Stadt Cali. Der perfekte Lebenslauf, für die meisten Kolumbianerinnen und Kolumbianer allerdings ist er unerreichbar.
Tello Sánchez könnte, statt zu protestieren, die Realität ausblenden, wie es immer noch viele auf dieser Sonnenseite tun, aber das kommt für sie nicht in Frage. Warum sie auf die Straße geht? "Wir können angesichts der Realität hier nicht einfach wegschauen, wir brauchen einen Wandel und Fortschritt. Kolumbien kommt seit 60 Jahren nicht vom Fleck, der Bürgerkrieg wurde immer als Ausrede benutzt", sagt sie, "die Macht liegt seitdem immer in den gleichen Händen, und die Unter- und Mittelschicht beraubt man Tag für Tag ihrer Chancen."
Dass ausgerechnet ihre Heimatstadt Cali zum Hotspot der Proteste wurde, hat zum einen mit einer Polizei zu tun, die kein Problem damit hat, Demonstranten durch die Straßen zu jagen und schnell den Abzug zu drücken Laut Tello Sánchez ist dies "der Modus operandi, um die Proteste zu unterdrücken". Zum anderen mit der besonders großen sozialen Ungleichheit in Cali – wenn in Kolumbien zehn Menschen unter die Armutsgrenze rutschen, kommt laut Statistiken einer von ihnen aus der südlichen Metropole.
Vor zwei Wochen veröffentlichte das staatliche Statistikinstitut Dane neue Zahlen zur Armut und sozialen Ungleichheit, nach über einem Jahr Pandemie. Ergebnis: Die Zahlen schossen um sage und schreibe 200 Prozent in die Höhe. "Fünf Millionen Menschen in Kolumbien essen jetzt nicht mehr drei Mal pro Tag, sondern nur noch einmal", sagt Tello Sánchez, "das, was jetzt gerade passiert, ist ein sozialer Knall, aber auch Resultat schlechter Regierungspolitik seit Jahrzehnten."
Der Tod des 24-jährigen Elvis Vivas bewegt Kolumbien
Für Esteban Franco sind diese Tage viel mehr als ein sozialer Knall, für den Studenten ist Anfang Mai nicht weniger als eine Welt zusammengebrochen. Und gleichzeitig der Glaube verloren gegangen, dass Kolumbien ein Land ist, dass seine jungen Menschen schützt. "Mein Freund Elvis Vivas ist bei den Protesten mutmaßlich Opfer von Polizeigewalt geworden. Er lag nach einer siebenstündigen Operation eine Woche lang im Koma und ist dann an seinen Schädelverletzungen verstorben."
Franco kann alle Details über die letzten Stunden seines Freundes detailgetreu herunterrattern, der Fall erschüttert ganz Kolumbien. Es gibt viele Zeugenaussagen, es kursieren Videos in den sozialen Netzwerken von Vivas in der Polizeistation, die Staatsanwaltschaft ermittelt. "Wir leben in einem Land, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten werden und in dem es keine Gerechtigkeit gibt", sagt der 28-jährige Franco, "wir sind hier umgeben von extremer Gewalt und Repression durch den Staat."
Trotzdem ist auch Franco am Freitag wieder auf der Straße, das, sagt er, sei er seinem verstorbenen Freund schuldig. Dass die Proteste in nächster Zeit abebben, wie die Regierung vielleicht hofft, glaubt er nicht. "Vor allem mit der Korruption muss hier endlich Schluss sein. Wenn sich nichts Grundlegendes hier ändert und die Menschen keinerlei Zukunft haben, werden viele das Land verlassen."