Erfolgreich auf der falschen Spur
28. Juni 2012"Wir haben uns geirrt mit der Spur Organisierte Kriminalität", räumt der oberste Kriminalbeamte des Bundes ein, und behauptet dennoch fast im gleichen Atemzug: "Die Praxis hat mir recht gegeben". Bei den meisten Abgeordneten im Untersuchungsausschuss des Parlaments, der sich seit März mit den Morden der rechtsextremen Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) an neun türkisch- und griechischstämmigen Kleinunternehmern und einer deutschen Polizistin befasst, erntet Jörg Ziercke verständnislose Blicke.
"Wie geht das zusammen?", will nicht nur der Vorsitzende Sebastian Edathy (SPD) wissen. Die Theorie des Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, ist folgende: Zwar habe auch das BKA die Täter jahrelang nicht im rechtsextremen Lager gesucht, sondern fälschlicherweise eine "Dönermafia", Drogenhändler, oder gar die Auseinandersetzung zwischen türkischen Rechtsextremen und PKK-Mitgliedern für die Mordserie verantwortlich gemacht.
Natürlich, so Ziercke, habe man damit falsch gelegen, aber die NSU sei eben eine sehr kleine, abgeschottete, hochkonspirative Gruppe gewesen, die nicht einmal in der rechten Szene Mitwisser gehabt habe. So etwas habe er ins einer langen Praxis noch nicht erlebt, erklärte der 65jährige.
Starker Tobak vom obersten Kripobeamten
Trotzdem habe das BKA 2006 bei der Unterstützung für die Aufklärung von fünf NSU-Morden in der Region Nürnberg die These eines bayerischen Polizei-Profilers nicht verworfen, der einen oder zwei rechtsextremen Einzeltäter für möglich gehalten hatte, die sich aus der Szene zurückgezogen hätten, um unter dem Motto "Taten statt Worte" militant zu agieren. Damit kam man bekanntlich der Wahrheit ziemlich nahe, doch suchten das BKA und seine bayerischen Kollegen die Täter am falschen Ort, wenn auch mit riesigem Aufwand.
Das versuchte BKA-Chef Ziercke dem Untersuchungsausschusses nun als Erfolg zu verkaufen: Die Sonderkommission (Soko) "Bosporus" habe dadurch solchen Druck entwickelt, dass das NSU-Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe nach 2006 keine weiteren Morde an Migranten mehr verübte. Die brutale Tötung der Polizistin Michele Kiesewetter im April 2007 durch die Rechtsterroristen ist aus der Sicht des erfahrenen Kriminalisten Ziercke lediglich eine Art Schlusspunkt gewesen, mit dem das Trio noch einmal seine Allmachtsphantasien auslebte, die es dann auch auf perverse Weise auf einer DVD verewigte.
Es war starker Tobak, den der BKA-Präsident den Abgeordneten vorsetzte. "Das nachrangig betriebene Verfolgen der rechtsextremen Spur durch die Soko 'Bosporus' im Raum Nürnberg soll die Mordserie des in Sachsen untergetauchten Trios beendet haben?" fragte ungläubig der Ausschussvorsitzende Edathy. Das sei wohl eher etwas fürs Feuilleton. Worauf sich ein gereiztes Wortgefecht entspann.
Doch "keine Stümperei" im BKA?
Ziercke versuchte in seiner mehr als vierstündigen Befragung mit allen Kräften jenes Bild von der Arbeit des BKA zu korrigieren, das sein ehemaliger Stellvertreter Bernhard Falk im Untersuchungsausschuss vor zwei Wochen hinterlassen hatte. Falk hatte von "kriminalfachlicher Stümperei" gesprochen, weil es dem BKA nicht gelungen war, die Ermittlungen zu der in mehreren deutschen Bundesländern verübten und in der deutschen Nachkriegsgeschichte beispiellosen Mordserie an sich zu ziehen und zentral zu führen. BKA-Chef Ziercke hielt nun dagegen: Die Ermittlungen hätten bei den Ländern belassen werden müssen, da dies der Rechtslage entsprochen habe. Eine bayerische Steuerungsgruppe mit BKA-Beteiligung für die Ermittlungen einzurichten, sei ein "vertretbarer Kompromiss" gewesen.
Der Präsident des Bundeskriminalamtes trat vehement der Vermutung entgegen, seine Behörde sei auf dem "rechten Auge blind" gewesen. Man habe bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus nie gezaudert. Die gegenwärtige Situation, nämlich zwei bis drei Gewalttaten von Rechtsextremisten pro Tag, könne eine Gesellschaft nicht hinnehmen:" Das ist die Grundeinstellung im BKA", so Ziercke. Bereits zu Beginn seiner Befragung hatte der oberste Kriminalbeamte Deutschlands erklärt, er empfinde Bedauern und Scham, dass die Sicherheitsbehörden die Opfer nicht hatten schützen können.
Bundestag beschließt Datei zu rechtsextremistischer Gewalt
Ein wesentlicher Fehler sei gewesen, dass die Sicherheitsbehörden nicht bereits nach den Neonazi-Anschlägen Anfang der 1990er Jahren genügend auf die Gefahren durch den Rechtsextremismus vorbereitet wurden, sagte Ziercke. So hätte man schon damals ein gemeinsames Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus schaffen müssen.
Dies haben Bund und Länder erst im Dezember 2011 als Konsequenz aus der NSU-Mordserie nachgeholt. Zeitgleich mit der Sitzung des Untersuchungsausschusses am Donnerstag beschloss der Bundestag außerdem die Einrichtung einer gemeinsamen Datei zu rechtsextremistischen Gewalttätern, auf die 36 Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern Zugriff haben werden.
Der Ausschuss wird in der kommenden Woche noch einmal vor der Sommerpause zusammentreten. Dann dürfte es für den Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz unerfreulich werden: Denn bei den deutschen "Schlapphüten" wurden im November 2011 ausgerechnet Akten über Umtriebe des rechtsextremen Thüringer Heimatschutzes, aus dem sich der NSU einst rekrutiert hatte, in den Reisswolf gesteckt.