Erdogan: Volle Attacke nach dem Wahlsieg
29. Mai 2023Noch bevor alle Wählerstimmen ausgezählt worden waren, hatte sich Präsident Recep Tayyip Erdogan zum Wahlsieger erklärt. Er danke allen, die es ihm ermöglicht hätten, die nächsten fünf Jahre in der Türkei zu regieren, sagte er am frühen Abend vor einer jubelnden Menge in Istanbul. Er werde "bis ans Grab" bei seinen Anhängern sein. Erdogan sprach von einem Sieg der Demokratie, bei dem niemand verloren habe.
Und wie im Wahlkampf setzte der 69-Jährige zu Attacken gegen lesbische, schwule, bisexuelle und transidente Menschen an. "Meine Brüder, ist diese CHP denn nicht für die LGBT?", fragte er im Hinblick auf die Partei seines Herausforderers Kemal Kilicdaroglu. In seinem eigenen Wahlbündnis gebe es so etwas nicht, sagte Erdogan.
Ausländischen Medien warf der Wahlsieger eine Stimmungsmache vor. Deutsche, französische und englische Zeitungen hätten versucht, ihn zu "stürzen", es aber nicht geschafft, sagte Erdogan vor Anhängern, die sich vor dem Präsidialpalast in Ankara versammelt hatte. "Die schmutzigen Spielchen habt ihr gesehen!"
Türkische Lira gerät unter Druck
Der Opposition warf er ein weiteres Mal Verbindungen zum Terrorismus vor, gegen den er nun verschärft vorgehen wolle. Er versprach weiter, die starke Inflation im Land zu senken. Ökonomen machen dafür allerdings seine unorthodoxe Wirtschaftspolitik verantwortlich.
Die türkische Lira, die bereits deutlich an Wert verloren hat, geriet noch am Wahlabend unter Druck. Mit einem Kurs von zeitweise 20,05 Lira je Dollar wurde sie nahe dem am Freitag erreichten Rekordtief von 20,06 Lira je Dollar gehandelt. Die Lira hat seit Jahresbeginn mehr als sechs Prozent verloren.
Laut vorläufigen Ergebnissen erhielt Erdogan gut 52 Prozent der Stimmen, sein sozialdemokratischer Gegenkandidat Kilicdaroglu knapp 48 Prozent. Die Opposition war in einem historisch einmaligen Bündnis aus sechs Parteien angetreten. Sie hatte eine Demokratisierung des Landes und einen harten Kurs gegen Flüchtlinge versprochen.
Ungleiche Voraussetzungen
Es war die erste Stichwahl in der Geschichte der Türkei. In der ersten Wahlrunde hatte der islamisch-konservative Amtsinhaber weniger als fünf Prozentpunkte vor Kilicdaroglu gelegen und die absolute Mehrheit nur knapp verfehlt.
Kilicdaroglu sprach von der unfairsten Wahl seit Jahren. Tatsächlich konnte Erdogan neben der Kontrolle über die Medien auch auf staatliche Ressourcen zurückgreifen. Zudem gab es Berichte über Unregelmäßigkeiten bei der Wahl, die jedoch nichts am Wahlausgang änderten.
Gratulationen von Putin und Selenskyj
Zu den ersten Gratulanten zählte der russische Präsident Wladimir Putin. Er nannte Erdogan einen "lieben Freund" und bezeichnete das Wahlergebnis als Bestätigung einer "unabhängigen Außenpolitik" des türkischen Präsidenten. Das NATO-Mitglied Türkei pflegt auch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine enge Beziehungen sowohl zu Russland als auch zur Ukraine und zur EU.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte, er setzte auf "die strategische Partnerschaft" der Ukraine und der Türkei und erhoffe sich eine gemeinsame Stärkung von Sicherheit und Stabilität in Europa.
Glückwünsche aus Washington, Brüssel und Berlin
US-Präsident Joe Biden ging in seinen Glückwünschen an Erdogan nicht auf die jüngsten Spannungen in den bilateralen Beziehungen ein. "Ich freue mich, weiter als NATO-Verbündete bei bilateralen Themen und gemeinsamen globalen Herausforderungen zusammenzuarbeiten", twitterte Biden am Sonntagabend.
Die Beziehungen zwischen Ankara und Washington waren in den vergangenen Jahren immer wieder auf die Probe gestellt worden. Konfliktpunkte waren das harte Vorgehen Ankaras gegen Kritiker, Militäraktionen in Syrien, Erdogans enge Beziehungen zu Putin auch während der russischen Invasion in der Ukraine sowie Ankaras Protest gegen den Beitritt Schwedens zur NATO.
Auch NATO und Europäische Union haben dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu seiner Wiederwahl gratuliert. Er freue sich auf die Fortsetzung der Zusammenarbeit und die Vorbereitung des NATO-Gipfels im Juli in Vilnius, schrieb NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Die Blockade des schwedischen Beitritts zur NATO steht auf der Tagesordnung des Gipfels.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel erklärten, sie wollten den Aufbau der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei weiter vorantreiben. Es sei von "strategischer Bedeutung sowohl für die EU als auch für die Türkei, an einem Ausbau dieser Beziehung zu arbeiten, zum Wohle unserer Völker", ergänzte von der Leyen.
Bundeskanzler Olaf Scholz schrieb, er wolle mit Erdogan "unsere gemeinsamen Themen mit frischem Elan vorantreiben".
Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament, Manfred Weber, hat sich dafür ausgesprochen, den EU-Beitrittsprozess mit der Türkei zu beenden. "Die letzten Jahre haben gezeigt, dass eine enge Partnerschaft wichtig ist, eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU allerdings niemand mehr will - weder die Türkei noch die EU", sagte der CSU-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Diesen Prozess müssen wir zu den Akten legen, weil er bessere Beziehungen mehr blockiert als unterstützt."
rb/fw (AP, AFP, dpa, Reuters)