Erdogan-Gegner in Deutschland
21. März 2017"Jede Frau, die ihre Freiheit als Türkin schätzt, muss mit 'Nein' stimmen", meint Nurcihan Bas. Die junge Frau läuft mit zwei roten Schildern über den Kölner Neumarkt, auf denen "Hayir" steht - das türkische Wort für "Nein". Die Demonstration in der Innenstadt hat Günay Capan organisiert. Nur wenige Menschen treffen sich an diesem verregneten kühlen Samstag auf dem großen Platz. "Das türkische Volk soll per Referendum gegen eine Demokratie stimmen? Das ist absurd", sagt Capan. Weder er noch die anderen Nein-Sager sind Parteianhänger, sondern Bürger, die Wähler informieren wollen. "Viele wissen nicht, worum es bei dem Referendum geht. Sie meinen, sie stimmten für oder gegen Erdogan. Aber es geht um einen Regimewechsel." Mit zahlreichen Infoständen, Veranstaltungen und Diskussionen in türkischen Cafés wollen Capan und seine Mitstreiter die Wähler aufklären.
"Wer will schon in einer Diktatur leben?" fragt Dogan aus Köln. Der Mitte-20-Jährige ist gegen die vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan geplante Verfassungsänderung. Mit seiner großen Trommel steht Dogan auf dem Neumarkt. Unter seinen Freunden sind viele Erdogan-Anhänger, erzählt er. Das anstehende Referendum ist in seinem Freundeskreis ein Tabu. "Die Erdogan-Anhänger fühlen sich sofort angegriffen, sobald ich mich kritisch dazu äußere", meint er. "Ich verstehe meine Freunde, die mit mir in Deutschland aufgewachsen sind, nicht."
Riss durch die türkische Community
Die Volksabstimmung über das von Erdogan geplante Präsidialsystem spaltet die türkische Community in Deutschland. Auch der Künstler Ali, der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte, ist Gegner der Verfassungsänderung und hat wegen zu großer Differenzen den Kontakt zu einem großen Teil seiner Familie verloren. Die Hochzeit seiner Tochter, die in der Türkei feiert, wird er auch nicht erleben. Als Besitzer des türkischen Passes hat er große Angst, dass er wegen kritischer Texte und Bilder als Erdogan-Gegner inhaftiert werden könnte.
Aktivitäten von Nein-Initiativen gibt es in vielen deutschen Städten. Turgut Yüksel, SPD-Abgeordneter im Hessischen Landtag, hat in Wiesbaden eine "Nein"-Initiative ins Leben gerufen. "Nach dem Start unserer Initiative waren viele froh, dass sich eine Gruppe für eine "Nein"-Kampagne engagiert", sagt er im DW-Interview. Turgut Yüksel und seine Mitstreiterin Mürvet Öztürk von den Grünen glauben, dass Erdogans Verfassungsänderung das parlamentarische System aushöhle und die Gewaltenteilung aufgehoben werde.
Per Bustransfer zum Konsulat
Ihr Anliegen: Die "Nein"-Sager unter den Türken und Türkischstämmigen sichtbar zu machen. Mit ihrer Initiative wollen sie Menschen ermutigen, ihre Meinung offen zu äußern, erklärt Yüksel. Mobil machen sie in jeder Hinsicht: Weil ab dem 27. März für zwei Wochen nur in den konsularischen Vertretungen gewählt werden kann, stellt die Initiative sogar Fahrbereitschaften und Bustransfers für die Menschen zur Verfügung, die in entfernten Regionen wohnen.
Die Nein-Initiative in Hessen ist gut organisiert und überparteilich. Allein in Frankfurt haben bei einer Kurdendemo am Wochenende 30.000 Menschen friedlich für "Demokratie in der Türkei" demonstriert - ein Andrang, auf den Günay Capan in Köln noch wartet.
Im "Nein" vereint
Die Organisation solcher Initiativen ist eine wahre Herausforderung, denn das Verhältnis innerhalb der türkischen Community ist laut Gökay Sofuoglu, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, angespannt. Türken und Kurden, Nationalisten oder Doppelpass-Inhaber, Muslime und Aleviten, Konservative oder Laizisten - sie alle werden von der türkischen Regierung angestachelt. "Das macht vielen Angst", sagt Sofuoglu. "Deutschland-Türken haben Angst ihre Position laut zum Ausdruck zu bringen", bestätigt er im DW-Gespräch. Viele Vereine und Ortsverbände grenzen sich voneinander ab, doch das "Nein" gegen Erdogans angestrebtes Präsidialsystem vereine sie, so Sofuoglu.
Die unparteiische Türkische Gemeinde überwiegend säkularer Deutschtürken mit etwa 50.000 Mitgliedern mischt sich erstmals in ein innenpolitisches Thema ein. "Die von Präsident Erdogan geplante Verfassungsänderung führt die Türkei zur Autokratie und entfernt sie immer mehr von demokratischen Grundwerten. Da mussten wir uns mit einem 'Nein' bei dem anstehenden Referendum positionieren", sagt ihr Vorsitzender im Interview. "Wir haben den Anspruch, dass eine demokratische Türkei zur Europäischen Union gehören soll."
Druck von allen Seiten
Anders als in der Türkei haben die Nein-Wähler in Deutschland einen Vorteil: Ohne mit staatlichen Repressalien rechnen zu müssen, können sie auf der Straße gegen Erdogans Pläne demonstrieren. Trotzdem werden sie drangsaliert - auf der Straße, in sozialen Netzwerken oder Erdogan-nahen Medien, die die Gegner des Präsidialsystems als "Terroristen" oder "Putschisten" beschimpfen. Die Denunzierung der Erdogan-Gegner erzeuge bei vielen Zurückhaltung, meint Sofuoglu. "Die Nein-Sager sind die schweigende Mehrheit. Ich denke, dass wir eine wichtige Rolle spielen werden", formuliert er seine Überzeugung.
Das Referendum könnte möglicherweise in Deutschland entschieden werden: Sollte das Ergebnis in der Türkei knapp ausfallen, wird jede Stimme der 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken in Deutschland umso wichtiger. Schon bei der vergangenen Parlamentswahl stimmten in Deutschland zehn Prozent mehr für Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP als in der Türkei. Durch ihren deutschen Ableger "Union Europäisch-Türkischer Demokraten" (UETD) hat die AKP auch hierzulande viel Einfluss, ebenso durch die Ditib (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.). Der Dachverband wird von Ankara aus finanziert und unterstützt mehr als 900 Moscheegemeinden. Das beflügelt Erdogans autokratische Ambitionen. Doch selbst AKP-Anhänger und türkische Nationalisten seien skeptisch geworden, meint Sofuoglu.
"Erdogan ist verunsichert und weiß nicht, wie groß das Nein-Lager ist. Deswegen wird er immer aggressiver", sagt in Köln die junge Demonstrantin Nurcihan Bas mit einem Lächeln. "Erdogan hat Angst vor uns."