Entschlossen, zu bleiben: Tunesiens Juden
10. Januar 2018"Das geschieht im Rahmen der Proteste gegen die Preiserhöhungen". In lakonischen Worten kommentierte Elie Trabelsi, Präsident der jüdischen Gemeinde auf der tunesischen Insel Djerba, auf seiner Facebook-Seite den Angriff auf die Schule der Gemeinde am späten Dienstagabend. Unbekannte hatten aus einem fahrenden Auto heraus Brandsätze in die Empfangshalle des Gebäudes geworfen. Personen wurden nicht verletzt, die Bomben verursachte lediglich geringfügigen Sachschaden.
Offenbar nutzten die Täter die kurzfristig verringerte Präsenz tunesischer Sicherheitskräfte auf der Insel. Wie aus vielen Provinzen des Landes waren sie aufgrund der Proteste in mehreren tunesischen Städten auch aus Djerba abgezogen worden. Seit Tagen protestieren Tunesier gegen Steuererhöhungen und Preissteigerungen.
In den vergangenen Wochen waren in den sozialen Netzwerk Aufrufe zur Gewalt gegen Juden in Tunesien veröffentlicht worden. "Wir müssen der Synagoge von Djerba zusetzen, bis sie weg ist", hieß es in einem Post. "Wir müssen die Juden aus Tunesien vertreiben und die Synagoge auf Djerba in Flammen setzen", in einem anderen. Gegen derlei Aufrufe hatte sich Trabelsi bereits Anfang Dezember des vergangenen Jahres gewandt: "Diese Leute finden unter dem Vorwand einer revolutionären Sache immer einen Grund, um andere aufzuheizen", schrieb er auf Facebook. "Ihr tut mir leid", wandte er sich an die Täter.
"Ein grundsätzlich gutes Verhältnis"
Grundsätzlich hätten Juden und Muslime aber ein gutes Verhältnis zueinander, sagt Trabelsi im Gespräch mit der DW. "Wir leben wie Brüder miteinander. Wir besuchen und helfen einander." Es gebe keinen Unterschied zwischen arabischen und jüdischen Bürgern. "Wir sind alle Tunesier - und nichts anderes."
Hinter den Anschlägen stünden Extremisten, vermutet Trabelsi: "Diejenigen, die die Molotow-Cocktails geworfen haben, sind keine echten Muslime. Es handelt sich um bösartige Menschen, die Araber und Juden in Tunesien spalten wollen." Vergleichbare Vorfälle habe es in der letzten Zeit nicht gegeben. "Echte Tunesier haben so etwas noch nie getan." Die Täter aus der letzten Nacht, vermutet er, handelten auf Anweisung einer radikalen Bewegung.
Die Einrichtungen der jüdischen Gemeinde von Djerba waren schon einmal Ziel eines Angriffs: Am 11. April 2002 steuerte ein Attentäter einen mit 5000 Litern Flüssiggas beladenen LKW in die al-Ghriba-Synagoge nahe des Dorfes Er-Riadh. Bei der Explosion starben 19 Touristen, die Mehrzahl von ihnen Deutsche.
Massiver Gemeindeschwund
Seit dem Angriff trägt sich eine ganze Reihe der tunesischen Juden mit dem Gedanken, das Land zu verlassen. Doch getan haben diesen Schritt nur wenige. Die meisten haben sich bislang dazu entschieden, in Tunesien zu bleiben - auch um der Gemeinde willen, für die jedes einzelne Mitglied zählt.
Denn die jüdische Gemeinschaft hat in den letzten Jahrzehnten einen enormen Mitgliederschwund verzeichnen müssen. Er reicht zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs: Als deutsche Truppen Tunesien besetzten, wurden zahlreiche Juden des Landes verhaftet und in die deutschen Konzentrationslager deportiert. Tausende wurden dort ermordet.
Der eigentliche Schwund setzte nach dem Ende des Krieges ein. Lebten im Jahr 1948 noch gut 105.000 Juden in Tunesien, waren es 2017 noch rund 1500.
"Die tunesische Nation ist nicht nur muslimisch", erklärte der tunesische Präsident Habib Bourguiba im Unabhängigkeitsjahr 1956. "Wir müssen Garantien geben und vor der gesamten Welt erklären, dass der tunesische Staat die Religionen respektiert und die Glaubensausübung garantiert, solange diese nicht die öffentliche Ordnung beeinträchtigen."
Auswirkungen des Nahost-Konflikts
Doch auch Bourguiba konnte nicht verhindern, dass sich der arabisch-israelische Konflikt atmosphärisch auch in Tunesien niederschlug. Während der französischen Protektoratszeit genossen die Juden größere Rechte als die Muslime. So fand sich in ihren Pässen nicht der Eintrag "Tunesier", sondern "französischer Schutzbefohlener" - eine Bezeichnung, die die Franzosen den muslimischen Tunesiern vorenthielten. Auch dies trug dazu bei, die Atmosphäre zu vergiften, mit der Folge, dass immer mehr Juden das Land Richtung Europa oder Israel verließen.
Der Rhythmus der Auswanderungen folgte denen der Höhepunkte im Nahost-Konflikt. So wanderten überdurchschnittlich viele Juden nach dem Sechs-Tage-Krieg (1967) und dem Yom-Kippur-Krieg (1973) aus.
Multikulturalismus fördert Toleranz
Die jüdische Präsenz, ist etwa der muslimische Theologe Abdelfattah Mourou, Vizepräsident der Versammlung der tunesischen Volksvertreter, überzeugt, tue dem Land als ganzem gut: "Eine Einheitskultur führt in den Radikalismus", erklärte er 2017 in einem Mediengespräch. "Eine multikulturelle Gesellschaft hingegen erlaubt uns, uns gegenseitig zu akzeptieren."
IInzwischen stehen der tunesische Staat und seine Bürger - muslimische wie jüdische - vor einer neuen Herausforderung: dem militanten Dschihadismus. Mehrere tausend Tunesier hatten sich im Irak und in Syrien der Terrororganisation "Islamischer Staat" angeschlossen. Eine ganze Reihe dieser Milizen sind inzwischen nach Tunesien zurückgekehrt. Mit mehreren Attentaten - etwa auf das Nationalmuseum von Bardo 2015 oder auf die Touristen an einem Badestrand in der Nähe der Stadt Sousse im selben Jahr mit jeweils mehreren Toten - haben die Terroristen ihre Gewaltbereitschaft hinlänglich demonstriert. Sie richtet sich potentiell gegen sämtliche Tunesier - und damit auch gegen die Juden.
Um sie zu schützen, hat der tunesische Staat vor vielen jüdischen Einrichtungen Polizeiwachen eingerichtet, die diese rund um die Uhr bewachen. Elie Trabelsi ist überzeugt, dass sie nun auch die Einrichtungen seiner Gemeinde auf Djerba verstärkt schützen wird. "Wir haben Vertrauen, dass sich ein solches Ereignis nicht wiederholt."