Nudges: Wie uns kleine Schubser beeinflussen
31. Oktober 2019Der Handywecker klingelt und es vibriert fürchterlich laut am Parkettboden. Na guten Morgen! Wie viel Schlaf war das genau? Egal, zu wenig. Viel zu wenig. Und ehe ich mich versehe, befinde ich mich kurz nach dem ersten Augenaufschlag inmitten meines täglichen Entscheidungsmarathons.
Bleibe ich noch kurz liegen, snooze ich noch eine Runde? Besser nicht. Trinke ich einen Kaffee, oder zur Abwechslung mal Tee? So ein Quatsch, Kaffee. Gehe ich vorher ins Bad? Auf gar keinen Fall. Und wie soll eigentlich das Wetter werden? Vielleicht brauche ich einen Schirm. Und eine Jacke?! Laufe ich zur Bahn oder nehme ich das Rad?
Und. So. Weiter.
Wow, das wäre geschafft. Bis ich morgens das Haus verlasse, habe ich – wie jeder Mensch - eine ganze Menge entschieden. Rund 35.000 Entscheidungen treffen wir täglich, schreiben Barbara Sahakian, Professorin für klinische Neuropsychologie an der Universität Cambridge, und Jamie Nicole LaBuzetta von der University of San Diego, in "Bad Moves: How decision making goes wrong, and the ethics of smart drugs".
Vielleicht sind es auch nur 20.000 oder sogar mehr. Das lässt sich nur schwer verallgemeinern. Mindestens 200 Entscheidungen pro Tag sollen allein für Mahlzeiten draufgehen. Das kann ich mir persönlich schon besser vorstellen. Noch 'n Keks?
Erdbeere, Schoko oder Vanille
Zum Glück sind die meisten dieser unzähligen Entscheidungen unbewusst, sonst hätte ich ein Problem. Denn Entscheidungen zu treffen, fällt mir extrem schwer. Und damit meine ich keine besonders wichtigen Veränderungen, sondern es reicht schon die Auswahl einer Kugel Eis.
Während ich unentschlossen vor der Eistheke auf- und ablaufe, die angebotenen Geschmacksrichtungen abwäge, scanne welche Behälter besonders leer sind – ergo besonders beliebt sind – , scheint es anderen ziemlich egal zu sein, welche Eis-Sorte sie gleich rübergereicht bekommen.
Sie wählen innerhalb von 0,5 Sekunden quasi die Erstbeste, Vanille etwa, ohne auch nur Avocado-Gurke-Petersilie oder Pfirsich-Lavendel direkt daneben eines Blickes gewürdigt zu haben.
Am Ende sind sie wahrscheinlich genauso glücklich mit ihrem Eis wie ich – mit dem kleinen Unterschied, dass sie zehn Mal schneller zum Entschluss gekommen sind.
Entscheidungen einfach treffen
Doch warum ist das so, warum treffen die einen Menschen scheinbar völlig problemlos sowohl nebensächliche als auch essenziellere Entscheidungen, und andere tun sich schon mit Alltäglichem schwer?
"Grundsätzlich ist es nie einfach, Entscheidungen zu treffen, ganz egal welche", sagt Eva Krockow, Juniorprofessorin in Psychologie an der University of Leicester. Sie forscht zu "Judgement and Decision Making".
"Allerdings beeinflussen auch Persönlichkeitsaspekte unsere Entscheidungsfreude", so Krockow."Wer eine Tendenz zum Perfektionismus hat, der hat den Drang, alle Optionen exakt abwägen zu müssen, was realistisch gesehen aber einfach unmöglich ist."
Auch wenn es natürlich schön wäre, alle 50 Eis-Sorten vor der finalen Entscheidung durchzuprobieren, das gibt auch Eva Krockow zu.
Alltagstaugliche Heuristik
Mit der Frage, wie Menschen in ihrem Alltag Entscheidungen treffen, beschäftigt sich sogar ein ganzes Forschungsgebiet, die "Kognitive Heuristik". Der Begriff "Heuristik" kommt aus dem Altgriechischen; "Heuriskein" bedeutet so viel wie "finden".
"Bei unserer Entscheidungsfindung greifen wir sogar ganz oft auf bestimmte Heuristiken zurück, wir merken es nur nicht", sagt Eva Krockow. Sie rät, öfters simple, aber effiziente Entscheidungsregeln zu nutzen.
Ein einfaches Beispiel: Wir möchten über ein verlängertes Wochenende verreisen, aber das Angebot an Unterkünften überfordert uns: Hotels, Bed&Breakfast, Hostel, Frühstück, Halbpension, All Inclusive.
"Suchen Sie sich das für Sie wichtigste Kriterium aus, von dem Sie Ihre Entscheidung abhängig machen", sagt Eva Krockow. "Das kann zum Beispiel die Unterkunft mit den meisten positiven Bewertungen allgemein sein, oder wenn Ihnen die zentrale Lage wichtig ist, dann setzen Sie hier Ihre Priorität." Bevor Sie sich in all den anderen Optionen verlieren, buchen Sie nach dieser einfachen Regel. Ende.
Die perfekte Lösung gebe es ohnehin nur selten, so Krockow. Auch das sollten wir uns im Alltag des Öfteren bewusst machen.
Entscheidungen: Intuition vor Logik
Grundsätzlich unterscheiden Psychologen bei Entscheidungen zwischen schnellen, instinktiven, beziehungsweise emotionalen Denkprozessen (System 1 genannt) und langsamen, systematischen Denkprozessen (System 2 genannt).
Diese Theorie wurde unter anderem von den Psychologen Daniel Kahnemann und Amos Tversky geprägt und wird oft als "Dual-process theory" (DPT) bezeichnet.
Ein Auszug aus Kahnemanns Buch "Thinking, Fast and Slow": "Auf unserem Weg durchs Leben lassen wir uns normalerweise von Eindrücken und Gefühlen leiten. Das Vertrauen, das wir in unsere intuitiven Überzeugungen und Präferenzen setzen, ist in der Regel gerechtfertigt. Aber nicht immer. Wir sind oft selbst dann von ihrer Richtigkeit überzeugt, wenn wir irren. Ein objektiver Beobachter erkennt unsere Fehler mit höherer Wahrscheinlichkeit eher als wir selbst."
2002 erhielt Daniel Kahnemann (mit Vernon L. Smith) für seine Arbeit über Entscheidungsprozesse den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften.
Die Sache mit dem Bauchgefühl
"Gerade im Alltag spielen Intuition und Bauchgefühl eine besonders große Rolle", sagt auch Eva Krockow. "System 1 wird in der Realität viel häufiger genutzt als System 2, da wird nicht genug Zeit und kognitive Kapazität haben, um über jedes Problem systematisch nachzudenken."
"Viele dieser automatischen Denkprozesse funktionieren gut – deshalb liegt man mit dem Bauchgefühl oft richtig", sagt Krockow. Aber: Bei wichtigen Entscheidungen oder in Situationen, in denen man womöglich manipuliert werden könnte, sollte man sich nicht allein auf das Bauchgefühl verlassen.
So durchschaubar
Denn wir Menschen sind leicht zu manipulieren. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie gehen mittags (besonders hungrig) in die Caféteria. "Was Sie dann auswählen, hängt ganz oft davon ab, wo ihr Blick als erstes hinfällt", sagt Eva Krockow. Studien haben sogar gezeigt, dass gesunde Früchte - wenn auf Augenhöhe präsentiert - häufiger gewählt werden.
Solche Entscheidungsarchitekturen werden natürlich gezielt eingesetzt, zum Beispiel in Supermärkten. Sie wissen das vielleicht auch, greifen aber trotzdem manchmal zu, stimmt's? Wenn im Supermarkt vorne an der Kasse Süßigkeiten liegen, schlagen wir spontan zu, obwohl wir zuvor erfolgreich einen großen Bogen um die Süßwarenabteilung gemacht hatten.
"Der Gedanke hinter der Theorie ist, dass man eigentlich die komplett freie Auswahl hat, unsere Entscheidungen aber stark davon beeinflusst werden, wie die verschiedenen Optionen dargeboten werden", so Krockow.
Mehr dazu: Wirtschaftsnobelpreis fürs "Anstoßen"
Zum Wohle des Kunden
Die gemeinnützige Organisation "Royal Society for Public Health" (RSPH) hat einen Report veröffentlicht, wonach bestimmte Konzepte in Supermärkten dabei helfen können, dass Kunden gesündere Lebensmittel kaufen.
Der Bericht soll Einzelhändler ermutigen, die Ladeneinrichtungen zugunsten gesundheitsorientierterer Designs zu überdenken: Es sollen weniger Regalflächen für Produkte wie Schokolade, Chips und zuckerhaltige Getränke bereitgestellt werden. Stattdessen sollen gesunde Lebensmitteln prominenter platziert werden, die auf dem EatWell-Leitfaden basieren, zum Beispiel Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte, mageres Fleisch und Wasser.
Um mit gutem Beispiel voranzugehen, hat RSPH einen Popup-Supermarkt in London eröffnet. Er trägt den Namen "Nudge".
Nudge: Ein kleiner Stups
Dieser Titel kommt nicht von ungefähr. Denn "to nudge" bedeutet so viel wie "anstupsen" oder "schubsen". Der Begriff wurde von Thaler und Sunstein in ihrem 2008 erschienenen Buch geprägt: "Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness".
Unter einem Nudge verstehen die Autoren eine Methode, um das Verhalten von Menschen zu beeinflussen - jedoch ohne Verbote und Gebote.
Beispiel gefällig? Wird in Urinalen das Bild einer Fliege angebracht, soll um die 80 Prozent weniger Urin auf dem Boden landen, da die Männer beim Urinieren auf die Fliege zielen. So heißt es jedenfalls.
Richard Thaler betont allerdings auch drei ethische Grundsätze beim Nudging: So müssen Nudges transparent und nicht irreführend sein. Es sollte so einfach wie möglich sein, sich gegen einen Nudge zu entscheiden und es sollte sichergestellt sein, dass das Verhalten, welches durch einen Nudge angestoßen wird, dem Wohlergehen der Gesellschaft dient.
Achtung, Aha-Erlebnis!
Gerade im Alltag, sagt auch Eva Krockow, gibt es unendlich viele Anwendungsbereiche für Nudges. "Wir werden überall genudget", so die Psychologin: "Es gibt kein neutrales Umfeld, alles ist irgendwie Design, alles ist Entscheidungsarchitektur."
Denken Sie zum Beispiel an ihren Arbeitsweg: Liegt da eine Bäckerei am Weg, deren Duft ihnen jeden Morgen entgegenkommt? "Auch das hat einen großen Einfluss", so Krockow. Wir müssen kein Brötchen oder Croissant kaufen, es ist nicht so, dass wir gezwungen werden, "aber wir werden extrem beeinflusst, wo ein Weg uns herführt."
Durchschauen Sie sich
Wer ein bisschen mehr über Nudging weiß, kann mit offeneren Augen durchs Leben gehen. "Sie werden sich selbst schnell durchschauen und merken, wo Sie besonders anfällig sind", weiß Krockow. Wir können uns quasi umstellen, "uns selbst nudgen sozusagen". Im Falle der verführerischen Bäckerei wäre das zum Beispiel ein kleiner Umweg, um der Versuchung zu widerstehen.
"Nudging ist eine ziemlich persönliche Angelegenheit. Manche Sachen treffen auf einen selbst zu oder beeinflussen einen mehr als andere Leute. Da braucht man etwas Einsicht, um das zu erkennen und seine Umwelt zu beeinflussen."
Übrigens ist selbst eine Entscheidungsexpertin vor der Nudget-Macht nicht sicher. Eva Krockow hat sich zum Beispiel eine neue Spülmaschine angeschafft, die plötzlich Platz für größere Teller hatte, woraufhin sie sich größere Teller besorgt hat. Dadurch wurden die Portionen beim Essen auf einmal größer.
"Wie groß wir die Portionen machen, war komplett uns überlassen, doch die Größe der Teller hat dann doch deutlich beeinflusst, wie viel wir gegessen haben."
Apropos Wahlmöglichkeiten, hier noch ein Beispiel aus dem Nudge-Universum: Forscher haben in einer Schulcaféteria getestet, wie viel Mühe die Schüler aufwenden, um an Eis zu kommen.
An einigen Tagen hielten sie dafür den Eisdeckel in der Theke geschlossen, an anderen Tagen geöffnet. Das Ergebnis: Wenn der Deckel geschlossen war, entschieden lediglich 14 Prozent der Schüler, dass sich die Mühe, also das anstrengende Öffnen der Theke, für ein Eis lohnt. War der Deckel schon geöffnet, entschieden sich 30 Prozent für Eis.
Was ich daraus für mein Eis-Dilemma mitnehme? Meine Eisdiele geht nun erst mal in die Winterpause. Der Deckel ist also vorerst mehr als zu.