Entschädigung in jedem Fall
27. September 2013Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist eindeutig: Zugpassagiere haben bei größeren Verspätungen auch dann ein Anrecht auf Fahrpreiserstattung, wenn das Bahnunternehmen nichts für den Grund der Verspätung kann. Bei sogenannter höherer Gewalt lehnte ein Betreiber bisher manchmal eine Entschädigung ab mit der Begründung, er sei ja für die Ursache nicht verantwortlich. Höhere Gewalt können Wettereinflüsse wie Schnee, Eis oder Überschwemmungen genauso sein wie Streiks oder Streckensperrungen durch Selbsttötungen. Das Urteil heißt nun für alle Bahnen Europas: Künftig müssen sie zahlen, egal, ob es um selbst- oder fremdverschuldete Verspätungen geht. Die Höhe der Erstattung ist schon seit längerem EU-weit geregelt: Beträgt die Verspätung 60 bis 119 Minuten, kann der Fahrgast ein Viertel des Fahrpreises zurückverlangen. Ab zwei Stunden steht ihm die Hälfte des Fahrpreises zu. Das Urteil betrifft allerdings nur die Eisenbahn und nicht den Bus-, Flug- oder Schiffsverkehr, wie das Gericht betont. Die Nutzungsbedingungen dieser Verkehrsträger seien nicht mit denen der Bahn vergleichbar.
Lerneffekt für die Bahn
Zahlreiche Verbraucherschützer und Politiker haben das Urteil begrüßt, weil es die Fahrgastrechte stärke und für Klarheit sorge. Denn jetzt muss kein Kunde mehr mit einer Bahngesellschaft über die Frage streiten, was höhere Gewalt ist. Aber selbst die Deutsche Bahn als eines der betroffenen Unternehmen hat überraschend zurückhaltend reagiert, wenn man bedenkt, dass auf sie höhere Kosten zukommen dürften. Die stellvertretende Sprecherin ihrer Personenverkehrssparte, Daniela Bals, erklärte gegenüber der Deutschen Welle, das Unternehmen nehme das Urteil "zur Kennntnis und wird die Entscheidung unverzüglich umsetzen". Bals zufolge hat die Bahn sowieso nicht allzu viel zu befürchten: "Schon in der Vergangenheit hatte die DB von der Möglichkeit, sich auf einen solchen Haftungsausschluss zu berufen, im Sinne der Kundenorientierung eher zurückhaltend Gebrauch gemacht". Michael Cramer, der verkehrspolitische Sprecher der Grünen im Europaparlament, sieht hier einen Lerneffekt. Im Interview mit der Deutschen Welle sagt er: "Die Bahn hat begriffen, wenn man sich um die Kunden kümmert, dass das ein Wettbewerbsvorteil ist gegenüber den anderen." Das sei bei Europas Staatsbahnen genauso wie bei den Privatbahnen.
Andere Regeln für Fluglinien
Die wahre Kritik richtet Cramer auch gar nicht auf das bisherige Entschädigungsverhalten der Bahnen in Europa, sondern auf die Ungleichbehandlung zwischen Bahn und anderen Verkehrsträgern. Seiner Erfahrung nach hätten die meisten Flüge Verspätung, ärgert sich der Grüne: "Und da gilt die Entschädigungsregelung erst ab drei Stunden, und das wird schamlos ausgenutzt." Das sieht auch Heidi Tischmann so, sie ist Sprecherin des umweltorientierten Verkehrsclub Deutschland, VCD. Im Gespräch mit der Deutschen Welle schimpft sie: "Fluggesellschaften haben sich immer mit höherer Gewalt herausgeredet, auch wenn es keine war." Die Ungleichbehandlung der Verkehrsträger auch in der Entschädigungsfrage sieht sie durch das EuGH-Urteil bestätigt, sie dürfe aber "keinen Bestand haben". Tischmann nimmt auch die Bahn insofern in Schutz, als sie argumentiert: "Wenn es Menschen gibt, die sich vor den Zug werfen, oder wenn es Unwetter gibt, dann ist das ein gesamtgesellschaftliches Problem, was auch gesamtgesellschaftlich von den Kosten her getragen werden muss, und nicht Sache eines einzelnen Unternehmens."
"Der Kunde ist sowieso immer der Gelackmeierte"
Deswegen sieht Tischmann das Urteil auch mit gemischten Gefühlen. "Wir erwarten ja fast, dass die Deutsche Bahn jetzt sagt: 'Wir haben soviel Mehrkosten, wir sind jetzt gezwungen, die Fahrpreise anzuheben.' Und das wäre nicht gut für den Bahnverkehr." Daniela Bals von der Deutschen Bahn will sich zur Frage der Preise noch nicht festlegen: "Wir müssen erstmal mit den anderen Bahnen die konkrete Umsetzung des Urteils besprechen und werden dann auch erst sehen, wie sehr die Entschädigungszahlungen steigen werden." Michael Cramer rät der Bahn, sich durch eine Versicherung oder eine Rücklage zumindest gegen außergewöhnliche Vorkommnisse wie das Hochwasser in diesem Jahr oder Streiks abzusichern. "Weil das so selten vorkommt, braucht man da auch pro Jahr nicht viel zu bezahlen." Aber auch er meint lakonisch: "Der Kunde ist ohnehin immer der Gelackmeierte." Sowohl der Grünenpolitiker als auch die VCD-Sprecherin bilden eine Art 'loyale Opposition' gegenüber der Bahn. Sie wollen aus Umweltgründen das Bahnfahren an sich stärken, gegenüber dem Auto oder dem Flugzeug. Sie finden aber, dass die Deutsche Bahn selbst es den Fahrgästen oft auch sehr schwer macht, sich für den Zug zu entscheiden, gerade durch ihre Preispolitik. Deshalb könnte das EuGH-Urteil für die Fahrgäste ein Pyrrhussieg sein: mehr Rechte für den einzelnen gegen höhere Fahrpreise.