England erfindet sich neu
4. Juli 2018Es ist eine Szene fernab der TV-Kameras. Mehr als 100 Minuten sind gespielt, das giftige Achtelfinal-Duell zwischen England und Kolumbien steht auf der Kippe. Wütende Angriffswellen Kolumbiens bestimmen das Spiel in der Verlängerung.
Die Ränge des Moskauer Spartak-Stadions sind in gelb gehüllt, die Kolumbien-Fans aufgepeitscht. Es muss sich anfühlen wie ein Auswärtsspiel für die Three Lions und ihren Kapitän Harry Kane.
Neuer Geist in der englischen Mannschaft
Dann schreitet Kane in die eigene Hälfte. Er haut sich mehrfach mit der Faust auf die eigene Brust. Ein Zeichen an seine Verteidiger. Als wolle er sagen: "Gegenhalten, Boys. Das hier geben wir nicht aus der Hand."
Es sind viele dieser kleinen Details, die den neuen Geist dieser englischen WM-Mannschaft einfangen. Ein Kapitän, der vorangeht und nicht den Kopf verliert. Ein Torhüter, der über sich hinauswächst. Eine Mannschaft, die den späten 1:1-Ausgleich in der Nachspielzeit wegsteckt - und ganz untypisch sogar im Elfmeterschießen die Nerven behält
Elfmeter können sie jetzt auch
"Wir haben keine Panik bekommen. Wir wussten, das Elfmeterschießen ist möglich", sagte Eric Dier, Schütze des entscheidenden Elfmeters zum Endstand von 5:4 n.E. "Wir waren darauf vorbereitet."
Es ist eine besondere Pointe dieses Abends, aber es war tatsächlich der erste englische Triumph in einem Elfmeterschießen in 84 Jahren WM-Geschichte. England hat sein Trauma besiegt und auch für Trainer und Ex-Spieler Gareth Southgate ist es eine späte Genugtuung. Er selbst ist einst tragisch vom Punkt gescheitert, damals bei der Europameisterschaft 1996 im eigenen Land im Halbfinale gegen Deutschland.
Und so hat Southgate, wie Spitzel der englischen Medien herausgefunden hatten, seit März Elfmeter in jeder Trainingseinheit extra üben lassen. Das Resultat: Nur ein Fehlschuss, bis auf Jordan Henderson verwandelten alle Engländer sicher.
Island-Trauma als Wendepunkt
Noch vor zwei Jahren war England weit entfernt von solch einem Erfolg in einer K.O.-Runde. Bei der Europameisterschaft 2016 in Frankreich war vorzeitig Schluss nach einer peinlichen Vorstellung im Achtelfinale gegen den großen Außenseiter Island.
Team und Trainer Roy Hodgson wurden von der englischen Presse zerfleischt. Danach übernahm Southgate. Viel am Aufgebot hat sich nicht geändert, aber Southgate scheint eine andere Ansprache gefunden zu haben.
"Ich bin stolz, wie wir als Team aufgetreten sind", sagte er nach dem Abpfiff. Und das Team hat Hunger, es allen zu beweisen. Aufregende junge Spieler wie Jesse Lingard, Marcus Rashford und Raheem Sterling können sich freier entfalten, ihre Spielfreude kann man ihnen im Nationaltrikot wieder ansehen.
Selbst Torhüter Jordan Pickford, gemeinhin als Schwachstelle ausgemacht, strahlt Ruhe und Sicherheit aus. Gegen Kolumbien zeigte er kurz vor Schluss wohl die Parade des Turniers, als er einen Fernschuss noch aus dem Winkel kratzte. Blöd nur, dass der Eckball danach zum Gegentor führte, Pickford war allerdings machtlos.
Kane auf den Spuren von Lineker
Und dann ist da natürlich Harry Kane, schon jetzt auf den Spuren von Englands WM-Rekordtorschützen Gary Lineker. Bereits sechs Tore hat er gemacht bei dieser WM, vier fehlen ihm noch zu Linekers Bestmarke.
Kane verwandelt nicht nur Elfmeter mit verbundenen Augen, schon drei in diesem Turnier, er wirft sich auch schonungslos in Zweikämpfe und ist sich für die Drecksarbeit nicht zu schade. Ein Kapitän, wie ihn die Engländer lieben.
Talent hatten sie im englischen Fußball schon immer, individuelle Klasse auf verschiedensten Positionen, doch neu ist, dass sie nun auch enge, wilde Spiele wie das gegen Kolumbien für sich entscheiden.
Dass sie sich nicht anstecken lassen von der hitzigen Atmosphäre und den vielen Nickligkeiten der Südamerikaner und einen kühlen Kopf bewahren. Dieser eindrucksvolle Sieg im Elfmeterschießen kann sie noch mehr zusammenschweißen.
"It’s coming home"
Und wer weiß, wie weit die Euphorie dieses englische Team tragen kann. Im Viertelfinale wartet Schweden, danach im möglichen Halbfinale entweder Kroatien oder Russland.
Für die mitgereisten Fans, im Spartak-Stadion waren sie deutlich in der Unterzahl, gibt es nur eine Antwort. Noch eine Stunde nach Schlusspfiff harrten sie im Stadion aus und sangen ihre Lieder - vom Titel, den sie mit nach Hause bringen. Das berühmte "It’s coming home..."
Es hat selbstironisch begonnen, im Freundeskreis und in den sozialen Medien, wie eigentlich zu jedem Turnier, wenn die Engländer sich denn qualifizieren. Aber mittlerweile wächst die Erkenntnis, dass dieses Team einen besonderen Spirit hat und tatsächlich etwas mit nach Hause bringen könnte. Das neue England hat Lust auf mehr.