Einkaufen im Supermarkt der Zukunft
12. April 2021Schon von Weitem springt mir das grellgrüne Logo des Amazon Fresh Ladens ins Auge. Passanten bleiben neugierig vor der gläsernen Fassade im Londoner Stadtteil Ealing stehen.
"Da kann man mit dem Handy zahlen." Eine Frau zeigt im Vorbeigehen auf den Ladenausgang, an dem es statt einer Kasse bloß eine elektronische Schranke gibt. "Einfach Wahnsinn", raunt sie ihrem Begleiter zu.
Vergangenen Monat hat der Onlinehändler Amazon seinen ersten "Just walk out"-Supermarkt in Europa eröffnet. Kunden lassen ihre Ware direkt vom Regal in die Einkaufstasche wandern und verlassen damit den Laden, ohne eine Kasse zu sehen. Keine Schlangen, kein hektisches Beladen des Förderbands, kein Rumkramen im Portemonnaie. Der Zahlvorgang erfolgt digital und unsichtbar.
Angestellte in leuchtend grünen T-Shirts erklären der Kundschaft gleich am Eingang, wie das funktioniert. Auch ich muss die Amazon App auf meinem Smartphone öffnen und scanne dann einen personalisierten QR Code. Die Schranke leuchtet grün und schwingt auf, wie an einem Flughafengate.
Sobald ich den Laden betrete, misst die App meine Aufenthaltszeit.
Keine Bewegung bleibt unerfasst
Auf den ersten Blick wirkt der Amazon Fresh Laden wie so viele andere beengte, unspektakuläre Supermärkte in der Londoner Innenstadt. Dann bemerke ich die Kameras und Bewegungsmelder über unseren Köpfen. Sie erfassen jede Bewegung, überwachen jede Ecke des Ladens. Den Rest machen Sensoren.
Die Artikel, die ich aus dem Regal in meine Einkauftasche lege, werden automatisch registriert und meinem virtuellen Einkaufswagen hinzugefügt. Während ich nach dem Feta greife, stelle ich mir vor, wie sich alle Kameras über mir in meine Richtung wenden, meine Bewegungen verfolgen - wie in einem Science-Fiction-Film. Aber alles bleibt still.
Tiefensensoren und Computer-Augen registrieren wachsam, welche Pasta-Sorte und wie viele Bananen die Kunden aus dem Regal nehmen. Die Technologie wurde zunächst in "Amazon Go"- Läden in den USA eingeführt. 2018 öffneten die ersten in Seattle.
Laut Amazon werden die im Laden gesammelten Kundendaten nur bis zu 30 Tage lang mit den Amazon-Konten der Käufer verknüpft.
Britische Bürgerrechtler kritisieren jedoch die großen Daten-Fußabdrücke, die der Konzern durch die neue Technologie sammelt. "Wir müssen mehr darüber erfahren, was das in der Praxis wirklich bedeutet und wie Amazon auch im Nachhinein die Kundendaten weiterverwenden kann", sagt Jim Killock, Leiter der Bürgerrechtsgruppe "Open Rights Group".
Das fehlende Puzzleteil
Während ich durch die Gänge des Ladens schlendere, grinst mir das Amazon-Logo aus jedem Regal entgegen. Der breit lächelnde Mund prangt auf den Produkten: Kartoffelbrei von Amazon, Kochschinken von Amazon, gelbe Rosen von Amazon - zeitgleich mit der Öffnung des ersten europäischen Supermarkts hat Amazon seine Eigenmarke eingeführt.
Ein leibhaftiger Supermarkt war das fehlende Puzzleteil in Amazons Marktbeherrschungsstrategie, sagt Natalie Berg, Einzelhandelsexpertin und Gründerin der Beratungsagentur NBK Retail. "Lebensmittel sind eine wirklich wichtige Kategorie, weil Kunden sie regelmäßig kaufen. Indem Amazon diesem Markt beitritt, bringt der Konzern seine Kunden dazu, auch alle anderen Artikel bei ihm zu kaufen", so Berg.
Die letzte menschliche Kontrolle
Außer Kassen fehlen in dem Supermarkt auch Einkaufswagen und Warenkörbe. Dadurch kann ich mich ungehindert durch die Gänge bewegen. Fast: Vor dem Alkoholbereich bremsen mich zwei Angestellte mit ernster Miene. Ich bin überrascht, dass selbst in dieser Tech-Oase der Alkohol noch von echten Menschen bewacht wird. Ich suche mir eine Weinflasche aus und zeige meinen Ausweis. Auf dieses manuelle Ritual konnte selbst Amazon anscheinend nicht verzichten.
Mit der vollen Einkaufstasche unter meinem Arm steuere ich auf den Ladenausgang zu. Ich warte darauf, dass jeden Moment ein Alarm ertönt. Stattdessen schwingt die Schranke einfach auf. Meine Einkäufe trage ich nahtlos von der Ladenschwelle auf den Bürgersteig.
Das kassenlose Ladentmodell ist in Großbritannien keine Neuheit. Andere Ketten wie Tesco und Marks & Spencer haben bereits ihre eigenen Konzepte entwickelt. Amazons Supermarkt ist jedoch der einzige, in dem Kunden die Ware nicht in einer App scannen müssen. "Amazons Konzept ist wegweisend, weil das Kauferlebnis komplett unbehindert ist," sagt Unternehmensberaterin Berg.
"Es fühlt sich wie Klauen an"
Deanna Sparks hat sich unbehaglich dabei gefühlt, den Laden einfach so zu verlassen: "Es fühlt sich seltsam an. Ich habe mich schuldig gefühlt, als ob ich etwas klauen würde."
Die 54-jährige Londonerin hatte von dem Supermarkt in den Nachrichten erfahren und ist extra nach Ealing gefahren, um hier einkaufen zu gehen. "Ich wollte es ausprobieren, um danach meinen Freunden sagen zu können, dass ich hier war und wie es war", erzählt sie mir.
Die vielen Kameras stören die Kundinnen und Kunden, mit denen ich spreche, nicht. "Ich weiß, dass in London ohnehin überall Kameras sind, also fällt mir das gar nicht auf", sagt Elizabeth Beelur.
Die junge Frau ist von ihrem ersten Besuch positiv überrascht: "Es ist schnell und praktisch. Du packst die Lebensmittel ein und gehst. Du musst nicht in einer Schlange warten und bist nicht genervt."
Nur der Anfang?
Um wirklich eine Konkurrenz für die etablierten britischen Supermarktketten darzustellen, muss der Tech-Gigant laut Einzelhandelsexperte Richard Hyman sein Lebensmittelangebot weiter ausbauen. "Die wahre Stärke von Amazon liegt in der Kaufabwicklung. Es ist eigentlich ein Transaktionsgeschäft. Der Einzelhandel ist nicht Amazons Stärke," sagt Hyman. Trotzdem glaubt er, es sei nur eine Frage der Zeit, bis Amazon Fresh-Märkte auch in anderen europäischen Ländern eröffnen.
Als ich von meinem Einkauf zurückkehre, bereite ich mir aus den Amazon-Zutaten einen Salat zu. Während ich den ersten Biss nehme, fällt mir auf, dass ich nicht einmal weiß, wieviel ich gerade für die Lebensmittel ausgegeben habe.
Ein kurzer Blick auf meine Amazon-App verrät es: nach 14 Minuten und 55 Sekunden im Laden habe ich insgesamt 15,56 Pfund ausgegeben, umgerechnet18,25 Euro. Die Erfahrung hat sich eher wie Onlineshopping als ein Einkauf im Supermarkt angefühlt.