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Eine "Miss Rollstuhl" darf nicht stehen

Nick Pietzonka14. April 2005

Behinderte genießen in den USA derzeit viel Aufmerksamkeit, wie schon lange nicht mehr. Nach dem Fall der Komapatienten Terri Schiavo wird die Frage diskutiert: Wie behindert muss man sein, um "Miss Rollstuhl" zu werden?

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Die umstrittene Antwort: eine echte "Miss Rollstuhl" darf nicht aufstehen – zumindest darf sie sich dabei nicht fotografieren lassen. Sonst ist sie ihren Titel wieder los. Da sind die Regeln streng beim "Miss Rollstuhl Amerika"-Wettbewerb und seinen Vorentscheiden. Wer behindert ist, muss auch so aussehen.

Janeal Lee wurde im Januar zur "Miss Rollstuhl Wisconsin 2005" gekürt. Lee hat Muskeldystrophie. Diese erblich bedingte Muskelerkrankung führt zu einem fortschreitenden Schwund des Muskelgewebes. Deshalb ist Lee auf den Rollstuhl angewiesen. Doch an guten Tagen kann die 30-Jährige aufstehen und auch ein paar Meter gehen. Lee ist High School-Lehrerin in Wisconsin. Sie unterrichtet Mathe. Vor allem im Klassenraum, wo sie sich an ihrem Tisch festhalten kann, kommt Lee für einige Minuten ohne den Rollstuhl aus. Für einen Artikel einer lokalen Zeitung wurde sie jetzt dabei fotografiert. Ungeheuerlich! Eine stehende "Miss Rollstuhl" – das ist nicht im Sinne der Veranstalter des Miss-Wettbewerbs. Und deshalb musste Lee jetzt ihren Titel zurückgeben.

Wenn Teilnehmerinnen von A nach B gehen können, ohne einen Rollstuhl oder einen Motorroller zu benutzen, "wie können sie dann 'Miss Rollstuhl' sein?", fragt Gina Hackel, Organisatorin des Wettbewerbs in Wisconsin. Dabei war es Hackel selbst, die Janeal Lee gefragt hatte, ob sie sich nicht zur Wahl stellen wolle. Lee sagte zu und stellte von vorneherein klar, dass sie ab und an in ihrem Klassenzimmer laufe.

"Es war in keinster Weise ein Geheimnis" sagt auch Catherine Gugala, eine der Jurorinnen. Sie hatte Lee selbst stehen sehen. Der Öffentlichkeit muss dieser Anblick aber offensichtlich verborgen bleiben.

Die Organisatoren des nationalen Wettbewerbs stützen die Entscheidung aus Wisconsin. Die Regeln des Wettbewerbs saehen vor, dass die Titelträgerinnen in der Öffentlichkeit im Rollstuhl oder Motorroller auftreten müssen. Deshalb habe Janeal Lee eine der Hauptanforderungen an eine "Miss Rollstuhl" nicht erfüllt, bestätigt Gail McKoon, Präsident von "Miss Rollstuhl Amerika". Und deshalb musste Lee nicht nur ihren Titel abgeben, sondern auch alle damit verbundenen Geschenke, unter anderem einen neuen Motorroller.

Der steht jetzt Kim Jerman zu. Sie fährt dann auch im kommenden Juli zum nationalen Finale. Jerman war eigentlich nur Dritte bei der Wahl in Wisconsin geworden. Nach dem Ausschluss Lees hatte sich aber die Zweitplatzierte, Michelle Kearney, mit Lee solidarisch gezeigt und sich geweigert, den Titel anzunehmen. Die neue "Miss Rollstuhl Wisconsin" sieht ein, dass sie den Titel unter unglücklichen Umständen gewonnen hat. Sie hält die Entscheidung aber für richtig, schließlich hieße der Wettbewerb aus gutem Grund "Miss Rollstuhl" und nicht "Miss Behinderung".

Mit dieser Einstellung sind Jerman und die Organisatoren aber weitestgehend isoliert. Behindertenverbände reagieren empört und fordern, Lee den Titel wieder zurückzugeben. Was hier passiert, vermittle eine "richtig schlechte Botschaft", sagt George Kerford von der WAPD, einer weltweiten Behindertenorganisation. "Wir denken, dass ein Mensch mit Behinderung nicht als jemand dargestellt werden sollte, der praktisch tot ist."

Aus diesem Grund hat auch Sharon Spring, Janeal Lees Schwester, ihren Titel zurückgegeben. Sie war amtierende "Miss Rollstuhl Minnesota". In ihrer Rücktrittserklärung sagt sie, sie fühle sich nicht mehr wohl, eine Organisation zu unterstützen, die sich entschlossen habe, Stereotype aufrechtzuerhalten und die ihre Mitglieder auffordere, ihre Fähigkeiten in der Öffentlichkeit zu verstecken, anstatt auf einen positiven Wandel hinzuarbeiten.

Der Fall wird in den US-amerikanischen Medien heiß diskutiert. Viele Kommentatoren meinen, dass die Organisatoren mit dieser Entscheidung sich und allen Behinderten einen Bärendienst erwiesen haben. Wenn jemand mit einer ernsthaften Behinderung wie der Muskeldystrophie dafür bestraft werde, dass er nicht behindert genug sei, würden alle verlieren. In der Tat wird der Sinn des Wettbewerbs dadurch entstellt und ins Gegenteil verkehrt. Die Miss-Wahl, mittlerweile in ihrem 32. Jahr, soll eben auf Behinderte und ihre Fähigkeiten aufmerksam machen.

Genau das sei jetzt aber durch die Kontroverse Diskussion erreicht, sagt derweil die entthronte Janeal Lee in einem Interview der Washington Post: "Es ist auf eine positive Art ueberwältigend. Ich denke, was passiert ist, ist eine Ungerechtigkeit, aber ich denke, dass diese Woche mehr Bewusstsein für Behinderungen geschaffen hat, als es ein Jahr als ‘Miss Rollstuhl Wisconsin’ je vermocht hätte."