Eine Krankenakte für jedes Buch
29. Mai 2009Salvador Dali, der berühmte spanische Surrealist, wurde einmal gefragt, welches Kunstwerk er aus dem Pariser Louvre im Falle eines Brandes retten würde. Seine verblüffende Antwort lautete: das Feuer! Ob man das in Weimar wohl auch so sieht?
Hier in der kopfsteingepflasterten Heimat der deutschen Dichter und Denker, hier im Herzen der Klassiker-Stadt, steht die Herzogin Anna Amalia Bibliothek (HAAB). Es gibt in Deutschland wohl keinen anderen Ort, an dem man die Kultur- und Literaturgeschichte zwischen 1750 und 1850 besser bewundern kann.
1691 wurde dieser "Tempel zur Veredelung der Menschheit" gegründet, wie Johann Wolfgang von Goethe die Bibliothek mit ihrem berühmten Rokokosaal nannte. Seit 1998 gehört die HAAB zum Weltkulturerbe der UNESCO und verfügt über mehr als eine Million Bände. Unter ihren Beständen befindet sich die größte Faust-Sammlung der Welt. Direktor Michael Knoche nennt sie eine Traumbibliothek, die "das gesamte geistige Reservoir enthält, mit dem die großen Weimarer Autoren gearbeitet haben."
Verfeuerte Weltkultur
Dieser Tempel der Literatur hat die Jahrhunderte überdauert, bis er im September 2004 brennt. Die Flammen schlagen 30 Meter hoch aus dem Dachstuhl, die Decke des Rokokosaals bricht durch und die obere Galerie mit ihren wertvollen Büchern, Manuskripten, Handschriften und Gemälden wird zerstört. "50.000 Bücher haben sich in Rauch aufgelöst", bilanziert Matthias Hageböck, Leiter der Restaurationswerkstatt. Die Literatur der Weimarer Klassik ist vom Brand aber weitgehend verschont geblieben. Die Bibliothek hat alle verlorenen Werke in einer Verlustdatenbank aufgelistet und versucht, für jedes Werk ein Ersatzexemplar zu finden, was aber nur zum kleinen Teil gelingt.
62.000 Bücher sind bei dem Brand beschädigt worden. Jedes einzelne hat eine "digitale Krankenakte" mit individueller Schadensanalyse bekommen. Schädigungsgruppen werden zusammengestellt, Schriften nach Papiersorten und Bucheinbänden sortiert, ein Masterplan erstellt. Danach lassen sich etwa 42.000 Bücher in der kleinen bibliothekseigenen Werkstatt bis 2015 wieder restaurieren.
Strahlender denn je
Drei Jahre nach dem Brand, am 24. Oktober 2007, wird die Bibliothek wiedereröffnet. Vor allem der zentrale Rokokosaal erstrahlt nun prächtiger als zuvor. Der dreigeschossige, ovale Lesesaal schimmert in einem gebläuten Weiß, jedes einzelne Bücherbrett ist mit einer strahlenden Goldkante versehen. Knapp 13 Millionen Euro hat die Restaurierung des Gebäudes gekostet.
Täglich kommen Hunderte von Touristen, um die Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu besuchen. Für sie stehen Filzpantoffeln für die Führungen durch die historischen Säle bereit. Ist die Bibliothek für die Öffentlichkeit also wichtiger geworden als die Büchersammlungen? "Die Bibliothek ist ein Gesamtkunstwerk", sagt Sabine Wenzel, Architektin und Direktorin für Schlösser, Gärten und Bauten der Klassik Stiftung Weimar. "Die Leute würden nicht hierher pilgern, wenn das Gebäude nur eine Schachtel wäre."
Auch Weimars Stadtobere sind stolz auf ihre HAAB. Politik, Stadtentwicklung und Tourismus gehen Hand in Hand seit die kleine thüringische Residenzstadt 1999 zur Kulturhauptstadt Europas herausgeputzt wurde. Schon gibt es Bibliothekssticker, Kaffeetassen und T-Shirts. "Mir ist es recht, wenn Jemand kommt und fragt: In Weimar hat es doch gebrannt, wie sieht es dort aus?", sagt Weimars ehemaliger Stadtkulturdirektor Ulrich Dillman. Sollte Dalis Feuer im Lichte der Marketingstrategen, Goldkanten und Touristenströme noch zu retten sein?
Autor: Michael Marek
Redaktion: Ramon Garcia-Ziemsen