Eine Geschichte von Skandalen
8. Juli 2012Das diesjährige Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis ist ungewohnt ruhig verlaufen – es wurde nicht geflucht, es floss kein Blut. Der erste Wettbewerber, der in Finnland lebende Autor und Übersetzer Stefan Moster, hatte den Reigen mit seiner Erzählung "Der Hund von Saloniki" begonnen - laut Jury-Mitglied Hubert Winkels "ein schöner Beginn", Mosters Beitrag sei "eine beunruhigende Erzählung". Auch im weiteren Verlauf des diesjährigen Wettbewerbs wurde es nicht richtig unruhig oder gar skandalös, die in Russland geborene Autorin Olga Martynova erhielt am Sonntag (08.07.2012) schließlich den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis.
Dabei ist die Liste der Aufreger beim Klagenfurter Autorenwettkampf lang und skurril. Von Unverdaulichem bis zum Unaussprechlichen wurde nichts Unappetitliches ausgelassen: Nach der Lesung aß der Schriftsteller Philipp Weiss sein Manuskript auf. Jungautor Rainald Goetz ritzte sich während seines Vortrags mit einer Rasierklinge die Stirn auf und las blutverschmiert weiter. Und der Schweizer Schriftsteller Urs Allemann wagte es, einen Text namens "Babyficker" vorzutragen.
Die jungen Teilnehmer des Ingeborg-Bachmann-Wettwerbs bei den "Tagen der deutschsprachigen Literatur" haben oft keine Mühe gescheut, um bei Zuschauern und Jury im Gedächtnis zu bleiben. Und auch die Jury selbst hat seit dem ersten Ingeborg-Bachmann-Literaturwettbewerb 1977 mit ihrer unerbittlichen Kritik viel dazu beigetragen, dass der dreitägige Vorlesemarathon lange Jahre als "Castingshow" verschrien war.
Skandal gehört dazu
Kein Wunder, dass die deutsche Autorin und Bachmann-Gewinnerin von 1998, Sibylle Lewitscharoff, 2010 in ihrer Eröffnungsrede zum Wettlesen um den 34. Ingeborg-Bachmann-Preis launisch "Über die Niederlage" referierte. "Mir ist nicht bekannt", sagte sie, "dass sich nach Empfang der Urteile jemand getötet hätte, zuvor gar mit einem nach Rache lechzenden Pamphlet, einer Aufforderung zur Generalumkehr, an die Öffentlichkeit getreten wäre."
Die hoffnungsvollen Jungautoren wissen, was sie erwartet. Und ein kleiner Skandal gehöre einfach dazu, sagt Doris Moser, die den Wettbewerb nicht nur vier Jahre lang geleitet hat: Sie hat auch wissenschaftlich untersucht, wie er funktioniert.
Theatralisches Ereignis
Bevor es 1977 los ging, japsten die Kritiker schon vor Entrüstung, zischten "größenwahnsinnig" und warfen den Organisatoren vor, den Namen Ingeborg Bachmanns als Aufmerksamkeitshascher zu missbrauchen. 100.000 Schilling, umgerechnet 7000 Euro, gab es damals für den Gewinner des Hauptpreises, eine unerhört hohe Summe, so viel bekam in Österreich sonst nur einer, der mit dem Staatspreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde. Dann war da diese Öffentlichkeitsarena, ein Jungautor liest aus einem bislang unveröffentlichten Text und wird anschließend von den Juroren gefeiert oder in den Boden gestampft, und alle hören mit, im Studio oder übers Radio, und Juror Marcel Reich-Ranicki polterte direkt drauf los.
Nachdem die Autorin Karin Struck gelesen hatte, rief er: "Wen interessiert schon, was die Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert?" und sagte, ihr Text sei keine Literatur, sondern "ein Verbrechen". Struck lief weinend aus dem Saal. Ein Journalist der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" bezeichnete den ersten Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb anschließend als "ein theatralisches Ereignis". Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler sprach von einem würdelosen Wettlesen, "bei dem eine auf der Strecke blieb – die Literatur – und einer sich profilierte – der Suhrkamp-Verlag." Aus diesem Verlags-Stall kamen die Gewinner. Und die gestrauchelte Karin Struck.
Marketingplattform der Verlage
Und damit begann eine Tradition, die als "Bachmannkritik" inzwischen schon eine Art eigenes Genre im Feuilleton ist. "Es ist schon fast unerhört, wenn jemand einen durchweg positiven Bericht über den Wettbewerb in Klagenfurt schreibt", sagt Doris Moser, die heute an der Alpina Universität in Klagenfurt Literaturwissenschaft lehrt. Aber was heftig kritisiert wird, wird interessant: Schon 1978 wurde die Lesearena als hochrangiger Literaturpreis bewertet und bekam einen Marktwert, den die Verlage für ihr Marketing benutzen.
Der Wettbewerb in Klagenfurt war nie ein Schaulaufen unbekannter Jungautoren. Die meisten Bewerber hatten ihre Erstlinge oder auch Drittlinge schon hinter sich, der Text, den sie in Klagenfurt vorlasen, lag oft schon gedruckt und verpackt im Verlagshaus und wartete auf den Aufkleber "Gewinner des Ingeborg-Bachmann-Preises" für die Auslieferung. Aber auch, wenn der nicht kam, galt Klagenfurt als Gütesiegel.
Karriereschub und Todesstoß
Der damalige Jungautor Rainald Goetz hat besonders davon profitiert. Zwar brachte ihm sein Rasiermesser-Schnitt 1983 nicht den Sieg, aber bis heute gilt er als das Skandalsymbol des Bachmann-Preises und war mit einem Schlag berühmt. Auch der Schweizer Autor Urs Allemann machte über den Wettbewerb hinaus von sich reden. Doch das schadete seiner Karriere nachhaltig. Über seinen Text "Babyficker" diskutierte sogar das österreichische Parlament. Man warf Allemann vor, Pädophilie verharmlosen zu wollen.
Allen anderen Normalos oder Exzentrikern hat Klagenfurt die Karriere eher erleichtert. Auch wenn sie nicht gewonnen haben. Aber seit dem Fall Weiss "warten auch alle darauf, dass wenigstens mal wieder einer eine Seite seines Textes isst", sagt Doris Moser. Das käme dann direkt ganz oben unter "News" auf die offiziellen Wettbewerbsseiten. 2007 hat immerhin der Autor Peter Licht ein bisschen Exzentrik verbreitet und wollte bei der Fernsehübertragung durch den ORF nur verhüllt, von hinten oder gar nicht gezeigt werden. Gähn. Dann doch lieber so nett sein wie Sten Nadolny, der 1980 seinen Hauptpreis mit allen Mitbewerbern teilte.