Eine gefährliche Mutprobe
21. August 2014Während ihr Sohn brennt, hält Janie Talley ihr Smartphone tapfer fest und filmt. Der Nagellackentferner auf der Haut des 16-Jährigen entzündet sich sofort und das Feuer frisst sich in die Haut des Jungen. Die Flammen lodern blau vom nackten Bauch aus in sein Gesicht. Er schreit. Seine Mutter kreischt: "Geh unter das Wasser, stell dich unter das Wasser!" Doch in seinem Schmerz flieht der Junge brennend aus dem Bad und läuft hilflos durch die Wohnung. Mit Verbrennungen dritten Grades wird er später am Abend ins Krankenhaus eingeliefert, seine Mutter wird festgenommen.
Die beiden hatten die Aktion in der Badewanne gestartet, wo sie die Flammen sofort hätten löschen können. Janie und ihr Sohn wollten ein spannendes Video drehen. Das hätten sie dann bei Facebook unter dem Hashtag "Fire Challenge" hochgeladen und sich über jeden einzelnen Like gefreut. Sowie all die anderen.
Die Mutprobe 2.0 soll berühmt machen
Sowie all die anderen, die in digitalen Zeiten zwischen all den unerschöpflichen Inhalten auffallen wollen. Und Aufmerksamkeit lässt sich nicht mit Durchschnitt generieren. "Momentan ist die Mutprobe 2.0 ziemlich effektiv", sagt der Marketing-Experte Felix Beilharz. Der Kölner berät Unternehmen unter anderem in Sachen virales Marketing - eine Marketingform, die soziale Netzwerke nutzt. Um eine "Miniberühmtheit" im Netz zu erlangen, müsse die Mutprobe gefährlich genug sein, sagt Beilharz.
Diese Challenges erobern das Netz rasend schnell. Die Videos zeigen meist jugendliche Menschen, die sich dabei filmen lassen, wie sie sich eiskaltes Wasser über den Kopf schütten, einen Löffel Zimt essen oder sich eben selbst anzünden. Die Verbreitung funktioniert viral: "Der Inhalt verbreitet sich also nicht von einer zentralen Stelle aus, sondern wird von Nutzer zu Nutzer geteilt", sagt Beilharz. Damit das funktioniert, müsse der Inhalt entweder besonders lustig oder besonders traurig sein, auf jeden Fall aber kurios. "Starke Emotionen spielen die entscheidende Rolle", sagt Beilharz.
Die "Fire Challenge" forderte ein erstes Todesopfer
Fälle wie der des elfjährigen Derick Robinson aus Clewiston in den Vereinigten Staaten gehen längst um die Welt. Der Junge hatte sich von seinen Cousins überreden lassen, sich anzuzünden und musste schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht werden. Für den 15-jährigen James Shores kam jede Hilfe zu spät - er verbrannte bei lebendigem Leibe. Doch warum zünden sich immer noch junge Menschen an? "Es geht darum zu zeigen, dass man etwas kann, was niemand sonst kann", meint Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff. Viele Jugendliche hätten das Gefühl, sonst nicht viel zu können. "Sie werden nicht mehr gefordert zu Hause", sagt Winterhoff. Wer nicht ab und zu mal den Tisch abräume oder andere kleine Hausarbeiten übernehme, fühle sich nicht gebraucht, nicht wertig, erklärt er. Natürlich sei die "Fire Challenge" eine extreme Variante, sich zu beweisen. Nach Ansicht des Bonner Jugendpsychiaters liegt dieser Mutprobe ein weit verbreitetes Problem zugrunde. Kinder würden überversorgt statt geführt. "Das Kind hat keine Aufgabe mehr und weiß so nicht, was es kann und was es darstellt", sagt Winterhoff. Deswegen suchten viele nach Anerkennung in den sozialen Medien.
Ein Gegenvideo kommt aus Deutschland
Den Jugendlichen geht es um Likes, um Bestätigung also, weiß auch Sami E. "Die Leute in diesen Videos wollen sich wohl als besonders furchtlos darstellen", sagt der 24-Jährige. Er studiert Bauingenieurwesen in Bochum, in seiner Freizeit pflegt er seinen Youtube-Kanal "Die Brodaz". Gemeinsam mit seinem Bruder hat der Student ein eigenes Video zum Thema "Fire Challenge" hochgeladen - allerdings eines, das vor den Gefahren warnt. In dem Video ist sein Bruder im Begriff, sich anzünden und bricht ab. Der Satz "Sei nicht dumm, dein Leben ist viel wichtiger als diese Challenges!" steht am Ende des Videos. Sami findet es wichtig, dass sich vor allem die Jugendlichen untereinander warnen - schließlich sind sie es, die sich gegenseitig dazu anstacheln. Eltern und Lehrer hingegen seien da machtlos. "Bevor die das über die Masssenmedien mitbekommen, haben die Kinder es längst auf Youtube gesehen", sagt auch Marketingexperte Beilharz.
Die Eltern tragen eine Mitverantwortung
Psychiater Winterhoff hingegen sieht die Eltern in der Verantwortung. "All das sind Folgen von Verbrechen an unseren Kindern", sagt Winterhoff. Schuld sei immer der Erwachsene. Um Ruhe zu haben und Konfrontationen zu entgehen, gebe man den Wünschen der Kinder zu oft nach. Besonders materiell seien viele Kinder und Jugendliche gesättigt. Auch in pädagogischer Hinsicht gebe man den Kindern zu viele Freiheiten: "Sie laufen in Kindergarten und Schule oft alleine herum, bewegen sich auch im Internet unkontrolliert", findet Winterhoff. Durch diese vermeintliche Freiheit fehle es den Kindern an Struktur und Orientierung. "Diese Jugendlichen leben in der Realität eines Kleinkindes", sagt Winterhoff. Ein Elfjähriger müsste eigentlich wissen, was Feuer ihm antut - aber die Kinder in den Videos könnten es offenbar nicht abschätzen. "Sie leben im Hier und Jetzt und so lustorientiert wie Säuglinge", sagt Winterhoff.
Facebook löscht Videos, Youtube nicht
Doch auch die sozialen Medien tragen ihren Teil dazu bei. Denn ohne Plattformen wie Facebook und Youtube wären solche Challenges gar nicht möglich. "Schuld sind sie sicher nicht, aber sie ermöglichen es überhaupt erst", findet Felix Beilharz. Facebook hat inzwischen reagiert und löscht diese Videos. Dazu müssen die aber erst einmal gemeldet werden. "Leider gibt es immer noch viele in meinem Alter, die diese Videos toll finden und weiterverbreiten", sagt Sami E. Auf Youtube sind einige der Videos immer noch zu sehen.
Bekannt geworden sind die virtuellen Mutproben in einem positiven Kontext: Verschiedene Prominente beteiligten sich an der sogenannten "Ice Bucket Challenge". Das Prinzip: Wer sich nicht binnen 24 Stunden einen Eimer mit eiskaltem Wasser über den Kopf gießt, muss 100 Dollar an eine ALS-Stiftung spenden, die im Bereich der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), einer Erkrankung des Nervensystems, forscht. Die Liste der Mutigen ist lang: Mark Zuckerberg hat es getan, Justin Timberlake und Bill Gates auch, ebenso Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg. Barack Obama drückte sich. Jetzt hat der ehemalige Handball-Nationalspieler Stefan Kretzschmar die Kanzlerin herausgefordert. Geantwortet hat Merkel noch nicht.