Immer neuer Streit um Einbürgerungen
8. Dezember 2022"Zu dem Berührendsten, was ich als Politiker bislang erlebt habe, gehören die Einbürgerungsfeiern, die wir zu meiner Zeit als Bürgermeister im Hamburger Rathaus immer wieder organisiert haben." Bundeskanzler Olaf Scholz, der für gewöhnlich norddeutsch unterkühlt wirkt, wird bei einer Rede Ende November in Berlin emotional.
"Ich habe dort in jedem Jahr vier oder fünf solcher Veranstaltungen durchgeführt, mit immer gleichem Ablauf, und ich war immer an der gleichen Stelle gerührt, an den mehreren gleichen Stellen, um ganz ehrlich zu sein, weil es mir immer wieder passiert ist. Ich musste dann irgendwie ganz systematisch cool gucken, damit es die anderen nicht merkten."
Der Kanzler thematisiert die Einbürgerung, die Möglichkeit, dass Migrantinnen und Migranten die deutsche Staatsangehörigkeit, den deutschen Pass bekommen. Ihm geht es um eine Wende in der Einwanderungspolitik, wie sie Deutschland seit über 20 Jahren nicht hatte. Überhaupt hieß es lange nicht "Einwanderungspolitik", sondern gerade bei unionsgeführten Bundesregierungen "Zuwanderungspolitik". Denn – so klang es –, wer zuwandert, kann auch wieder abwandern.
Einst die "Gastarbeiter"
Eine knappe halbe Stunde Fußweg sind es vom Kanzleramt und vom Reichstag, den Zentren der politischen Macht, zum Deutschen Historischen Museum (DHM). Noch bis Mitte Januar zeigt dieses Haus eine kleine Schau: "Staatsbürgerschaften – Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789". Sie zeigt Entwicklungen und Veränderungen im nationalen Vergleich. In der Geschichte der Bundesrepublik ist es ein Hin und Her, seitdem in den 1960er Jahren "Gastarbeiter" ins Land kamen und diese Bewegung 1973 in einer wirtschaftlichen Krise politisch gestoppt wurde.
Wirklich einschneidend war eine grundlegende Neufassung des Staatsangehörigkeitsrechts durch die 1998 gestartete rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder, die zum Jahresbeginn 2000 in Kraft trat. Seitdem erhalten in Deutschland geborene Kinder von Ausländern automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit, falls sich ein Elternteil mindestens acht Jahre legal in Deutschland aufhielt. Eine Doppelstaatsbürgerschaft war jedoch nicht als Regelfall vorgesehen.
Der erste Satz, den der Besucher der DHM-Ausstellung liest, hat etwas von Pathos: "Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustande wie ein Mensch." So schrieb Bertolt Brecht (1898-1956), einer der größten deutschen Dramatiker des 20. Jahrhunderts, 1940/41.
Das Zitat lässt ahnen, wie wichtig, ja lebenswichtig ein Pass sein kann. Brecht selbst war Ende Februar 1933, vier Wochen nach der Machtübernahme durch die Nazis, ins Exil gegangen. 1935 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Über Frankreich und Dänemark, Schweden und Finnland kam Brecht, nachdem er ein Einreisevisum erhalten hatte, 1942 in die USA. Sein Lebensort für fünf Jahre.
EU-weit 729.000 neue Staatsbürger
Insgesamt bekamen 2020 in der Europäischen Union 729.000 Menschen eine Staatsbürgerschaft. Für rund 15 Prozent von ihnen bedeutete dies einen deutschen Pass; nur Italien und Spanien vermeldeten mehr Einbürgerungen. Die einzelnen Länder haben dabei unterschiedliche Verfahren. In Deutschland müssen die Antragstellenden bislang seit acht Jahren (demnächst, so ist vorgesehen, seit fünf Jahren) dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland leben und für ihren Lebensunterhalt sorgen können; dann geht es darum, Fragen zur Geschichte, zur Kultur, zum alltäglichen Zusammenleben sowie zum rechtlichen und politischen System zu beantworten und persönliche Angaben zu machen.
Wenn man aber die Zahlen, die die einzelnen EU-Länder im Jahr 2020 aufnahmen, umrechnet auf die jeweilige Einwohnerzahl, dann steht Deutschland recht abgeschlagen im unteren Teil der Tabelle. Mal spricht in der DHM-Schau eine Statistik von 111.170 Einbürgerungen in Deutschland 2020, mal, einige Schritte weiter, von 109.900. Dabei sind die Deutschen bei Statistiken doch gemeinhin ganz sorgfältig, so jedenfalls das Klischee. Aber welche Zahl auch immer korrekt ist: In der EU liegt Deutschland bei der sogenannten Einbürgerungsrate mit einem Anteil von gut einem Prozent auf Rang 19. Zum Vergleich: Beim Top-Land Schweden sind das mehr als acht Prozent, in Portugal knapp sechs.
Nimmt Deutschland nun viele oder eher wenige Neubürger auf? Die Münchener Politikwissenschaftlerin Ursula Münch wendet sich im Gespräch mit der Deutschen Welle gegen den Eindruck, "dass sich Deutschland schwerer tut mit der Einbürgerung und der Aufnahme von Migranten als andere Staaten". Das bezweifele sie. Die Bundesrepublik sei sowohl bei der Aufnahme sogenannter Gastarbeiter in den 1960er Jahren als auch bei der Aufnahme von Asylbewerbern seit 1989 nie "besonders begeistert" gewesen. Doch das Land habe bei Flüchtlingen stets "viel, viel mehr Menschen aufgenommen als die meisten anderen Mitgliedstaaten". Wenn man auf die Aufnahme von Menschen aus dem damaligen Jugoslawien nach 1994, aus Syrien 2015/16 oder aus der Ukraine schaut, bestätigt sich das.
Aber Flüchtlinge sind in den meisten Fällen keine Kandidaten für die Einbürgerung. Ursula Münch, die auch Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing ist, sieht als ein Dilemma in Deutschland das Hin und Her zwischen Arbeitsmigration und Asylrecht. Und ein Teil der Politik, vor allem die Unionsparteien, wie auch der Bevölkerung befürchte, dass auch bei einer geregelten liberaleren Arbeitsmigration die Zahl der Asylbewerber hoch bleibe.
Mahnung an die Wirtschaft
Münch verweist darauf, dass Integration eben Arbeit bedeute: Menschen begleiten, für Wohnraum sorgen, schulische Bildung ermöglichen, gesellschaftliche Eingliederung anbieten. Die Wirtschaft rufe heute – wie auch schon 2015 – "laut nach Arbeitskräften, aber sie hat sich um das Thema Integration nicht wirklich verdient gemacht". Die Politikwissenschaftlerin verweist auf die politisch Verantwortlichen, die sich vor Ort kümmern müssen, aber nicht so oft in Medienberichten vorkommen: die Landräte. Sie müssten all die Probleme "bewältigen, die vor Ort auf die Kommunen einprasseln".
Landräte – das sind in rund 400 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland die obersten Kommunalbeamten. Sie werden als politische Beamte gewählt, in der Regel alle fünf Jahre, und müssen sich um alles kümmern. Joachim Walter ist so einer, 61 Jahre alt, CDU-Politiker, seit 2003 Landrat des Landkreises Tübingen, in dem knapp 230.000 Menschen leben. Seit 2013 ist Walter auch Präsident des Landkreistages Baden-Württemberg.
"Bei den Landräten ist relativ klar, dass wir klar unterscheiden müssen zwischen dem Zugang zum Arbeitsmarkt und dem Zugang ins Asyl aus humanitären Gründen", sagt Walter. Und der Zugang zur Einwanderung müsse "sauber geklärt werden", sauberer als bislang.
"Ein spätes Einwanderungsland"
Walter berichtet von den Rufen der Wirtschaft, der die Fachkräfte fehlten. Und sie fehlten nicht nur in diesem Bereich, sondern auch schon in der Verwaltung der Kommunen. Vor Jahren sei mal das Wort angesagt gewesen, Deutschland sei "eine späte Nation". Er sage heute: "Wir sind auch ein spätes Einwanderungsland." Denn Deutschland halte die Zugänge in den Arbeitsmarkt nach wie vor unklar. Dabei sei doch auch das "Thema Migration gekommen, um zu bleiben".
Walters Landkreis Tübingen liegt im Großraum Stuttgart im Südwesten Deutschlands. Es ist eine der boomigsten Boom-Regionen Deutschlands. "Wirtschaftsflüchtling", das betont der Landrat ausdrücklich, sei für ihn "kein Schimpfwort". Drei seiner Großeltern seien einst "aus dem kargen Württemberg nach Nordamerika gegangen", hätten dort Geld verdient und zum Überleben der Familie nach Hause geschickt.
Und Joachim Walter weiß, wie sehr heute Arbeitskräfte gesucht werden, es herrsche "eklatanter Fachkräftemangel". Da reiche Migration aus humanitären Gründen nicht aus. "Man braucht dringend Arbeitsmigration und muss dafür werben." Aber er schildert auch den täglichen Druck, schnell Wohnraum für Geflüchtete zu finden. "Wir spüren, jetzt wird's eng." Er erwähnt die Schwierigkeiten, qualifiziertes Personal für die Integrationshilfe und Flüchtlingsarbeit zu finden. Und er beklagt auch Versäumnisse auf Bundesebene. So sei für die Sprachvermittlung das Bundesamt für Flüchtlingswesen zuständig. Und das lasse derzeit zu viele Menschen, vor allem Ukrainer, allein.
Im Landkreis Tübingen gibt es übrigens seit 2015 pro Jahr meist deutlich über 400, einmal auch über 500 Einbürgerungen. Wie groß dabei die Zahl der Neubürger ist, die als Geflüchtete nach Deutschland kamen, erfasst die Behörde nicht. Diese machten nur einen kleinen Teil aller Einbürgerungen aus, es werden aber mehr, vor allem seien dies Syrer.
Die Schau im DHM bestätigt, dass diese Zahl eher gering ist. Von den rund 110.000 Einbürgerungen in Deutschland im Jahr 2020 kamen 74.400 aus anderen EU-Staaten. Knapp 12.000 neue Pässe gingen an Menschen aus der Türkei, gut 6000 an Syrerinnen und Syrer.
Auch der Osnabrücker Historiker und Migrationsforscher Jochen Oltmer sieht deutliche Fortschritte in Deutschland und beeindruckende Zahlen. Zwischen 2000 und 2020 seien 2,7 Millionen Menschen eingebürgert worden. Das sei "keine kleine", eher eine "spektakuläre Zahl", sagt er der DW.
Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts Anfang 2000 bedeutete einen grundlegenden "Paradigmenwechsel", erläutert der Wissenschaftler. Seitdem habe es "ein Schrauben an der ein oder anderen Stelle", aber auch unter CDU/CSU keine grundlegende Änderung gegeben. Auch die Veränderungen, die die Ampel-Koalition nun anstrebe, seien mit 2000 nicht zu vergleichen.
"Welcome-Behörden statt Abwehrbehörden"
Oltmer betont, es hapere an der Umsetzung. Kommunale Behörden sähen sich überfordert. Ausländerbehörden verstünden sich "eher als Abwehrbehörden denn als Welcome-Behörden. Da braucht es nach wie vor einen Kulturwandel."
Oltmer findet es wichtig, die Debatte über Fachkräftemangel stärker mit der Frage der Staatsangehörigkeit zu verbinden. An die zehn Millionen Menschen, die dauerhaft hier lebten, seien nicht wahlberechtigt. "Ein Demokratiedefizit", sagt er. Das ist übrigens ein Aspekt, den auch Kanzler Scholz Ende November thematisierte. "Eine Demokratie lebt von der Möglichkeit, mitzubestimmen", mahnte er.
Oltmer betont, je offener das Land bei der Vergabe der Staatsangehörigkeit sei, desto leichter tue es sich dabei, Fachkräfte zu gewinnen. "Es braucht die Verknüpfung." Und es reiche nicht einfach eine Gesetzesänderung. Notwendig seien die Offenheit der Gesellschaft und mehr Engagement von Betrieben für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, beispielsweise bei der Anerkennung beruflicher Qualifikationen.
Schärfe der Kritik? "Nicht nachzuvollziehen"
Oltmer sagt, dass die Frage der Staatsangehörigkeit sicher einen Kernbestand an großen Fragen berühre. Da gehe es um Nation, Identität und Zugehörigkeit. Aber die längste Zeit seit dem Jahr 2000 hätten die Unionsparteien die Bundesregierung geführt und die politischen Leitlinien bestimmt. Die C-Parteien hätten die grundsätzliche Öffnung des Jahres 2000 weiter ausgestaltet. "Da lässt sich die Schärfe, die nun in die Debatte gebracht wird, nicht nachvollziehen", sagt der Migrationsforscher. Hier sehe die Union die Chance, ein Thema aufzugreifen, das politische Mobilisierung ermögliche und der Vorbereitung des nächsten Wahlkampfes diene.
Kanzler Scholz hat jedenfalls deutlich gemacht, was er in den kommenden Monaten parlamentarisch erreichen will: "Wer auf Dauer hier lebt und arbeitet, der soll auch wählen und gewählt werden können, der soll Teil unseres Landes sein, mit allen Rechten und Pflichten, die dazugehören, und zwar völlig unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder religiösem Bekenntnis."