Ein Zuhause für vergessene Flüchtlinge
5. Juli 2017Es liest sich wie einer dieser Betrugsversuche, die man per E-Mail zugeschickt bekommt: "Sie sind die tausendste Person… und Sie haben eine Wohnung gewonnen". Aber Familie Gnjatović aus Pančevo, unweit der serbischen Hauptstadt Belgrad, ist tatsächlich die tausendste Familie in Serbien, die im Rahmen des Regional Housing Programme (RHP) ein neues Zuhause bekommt. Es ist ein neugebautes Fertighaus; die Schlüssel überreicht der Außenminister Ivica Dačić der Familie persönlich.
Milosava Gnjatović floh 1995 aus dem bosnischen Städtchen Ključ. Es war kurz vor dem Ende des Bosnien-Krieges. "Seitdem lebe ich zur Miete, zuletzt mit drei Kindern. Ich habe die Hoffnung fast verloren... es ist schwer, ein eigenes Haus zu kaufen. Die Jobs hierzulande reichen gerade, um über die Runden zu kommen", sagt sie. "Das neue Haus ist schön. Es ist für uns eine Lebensfrage."
Kinder, im Flüchtlingscamp geboren
Vor drei Jahren hat Milosava erstmals von RHP gehört. Das Programm ist überwiegend durch EU-Mittel finanziert und soll bis Mitte 2019 rund 8.000 Familien in Serbien, Bosnien, Montenegro und Kroatien eine eigene Wohnung verschaffen. Es sind Flüchtlinge aus den blutigen Kriegen, die in den Neunziger Jahren den Zerfall Jugoslawiens markierten. Viele leben auch mehr als zwanzig Jahren nach Kriegsende noch in äußerster Not in Flüchtlingszentren.
"Hier sehen Sie eine neue Generation. Diese Kinder sind hier geboren, aber trotzdem werden sie als Flüchtlinge erfasst", bemerkt der serbische Flüchtlingskommissar Vladimir Cucić und zeigt auf Milosavas zwei Töchter und ihren Sohn. "Es ist schreckliche Realität ,und natürlich bin ich mit der Gesamtlage nicht zufrieden. Andererseits: Heute bin ich sehr zufrieden, denn ohne RHP hätten die tausend Familien niemals ihr Hauptproblem gelöst", sagt Cucić im DW-Gespräch.
271 Millionen Euro zugesagt
Unweit von Pančevo entsteht in einem Belgrader Vorort ein neuer Wohnblöcke. Gigantische Kräne rotieren über den Baustellen, die Arbeiter trotzen der höllischen Hitze, um alles rechtzeitig fertig zu bekommen. Hier sollen bis Ende des Jahres noch 235 Familien ein Obdach bekommen. Die meisten der rund 5000 Wohneinheiten werden in Serbien gebaut - das Land hat während der Jugoslawien-Kriege und unmittelbar danach rund 540.000 Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien aufgenommen. Wie in den benachbarten Republiken geht man auch hier unterschiedliche Wege: Wohnblöcke und Altersheime werden gebaut, Fertighäuser montiert, Landhäuser angekauft oder Baumaterial gespendet.
"Die Idee war, den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden, aber auch die Mittel möglichst ökonomisch einzusetzen", erklärt Stephan Sellen, stellvertretender Direktor der Entwicklungsbank des Europarates, die die Gelder für das Programm verwaltet. "Klar, der Neubau einer Wohnung ist pro Einheit teurer, als wenn man einer Familie, die schon ein halbfertiges Haus hat, Baumaterial zur Verfügung stellt. Es gibt viele leer stehende Häuser und Höfe auf dem Land, wo sich Leute mit landwirtschaftlichen Kenntnissen leicht eine Existenz aufbauen können."
Sellen nahm Ende Juni an der jährlichen Geldgeberkonferenz teil und freut sich, dass sich in Zeiten vieler internationaler Krisen noch Interesse für jugoslawische Flüchtlinge wecken lässt. Bisher sind 271 Millionen Euro zugesagt worden, davon 232 Millionen aus dem EU-Etat, über 100 Millionen sind schon geflossen. Die größten bilateralen Geldgeber sind USA, Deutschland, Norwegen, die Schweiz und Italien.
Flüchtlinge waren sich selbst überlassen
So können wenigstens manche Flüchtlinge mit zwei Jahrzehnten Verspätung mit Wiedergutmachung rechnen. Nach dem Krieg mit über 100.000 Opfern und Millionen Vertriebenen waren die neu entstandenen Republiken auf dem Balkan nicht in der Lage, nachhaltig zu helfen. "Der Großteil der serbischen Bevölkerung hat die Flüchtlinge als Mitbürger akzeptiert", erinnert sich der Journalist und Filmautor Filip Švarm - auch er kam damals als Flüchtling aus Kroatien. "Doch eine systematische Unterstützung blieb aus. Die meisten konnten sich nur auf sich selbst verlassen. Sie haben hart gearbeitet, um sich und ihren Kindern eine neue Existenz aufzubauen", sagt er der DW.
Das regionale Wohnungsprogramm zeigt, dass ehemals verfeindete Nachbarländer jenseits der populistischen Tagespolitik reibungslos zusammenarbeiten können. "Wir waren alle stark betroffen - Bosnien und Kroatien durch den Krieg, Serbien durch Flüchtlingswelle, NATO-Bombardierung und Sanktionen", sagt Flüchtlingskommissar Cucić. "Die Zusammenarbeit ist der einzige Weg, die Brücken zwischen uns wieder aufzubauen. Die Kollegen aus anderen Ländern empfinde ich mittlerweile als Teil eines gemeinsamen Teams."
"Ein Modell für ähnliche Situationen"
Stephan Sellen kennt die aktuelle Flüchtlingsdebatte in seiner Heimat Deutschland allzu gut. Man will helfen, aber nicht unbegrenzt, und Syrer, Iraker oder Afghanen werden irgendwann - genauso wie damals Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien - zurückgeschickt. "Dieses Programm kann in der Tat als Modell für ähnliche Situationen dienen, nicht nur wegen der technischen Struktur, sondern auch in Bezug auf das Einüben von Zusammenarbeit zwischen zuvor verfeindeten Kriegsparteien", sagt Sellen.
Er arbeitet von Anfang an bei RHP und kann in letzter Zeit immer öfter erfreuliche Ergebnisse verzeichnen. "Wir haben viele Familien getroffen, die zuvor in ganz schlimmen Verhältnissen gewohnt haben und jetzt sagen, dass sie sich zum ersten Mal seit 25 Jahren wieder wie richtige Menschen fühlen."
Das Fertighaus, in das die Familie Gnjatović bald einziehen wird, ist ziemlich klein - drei Zimmerchen, Bad, Toilette und die winzige Terrasse auf knapp sechzig Quadratmetern. Der neunjährige Sohn läuft in Fußballschuhen auf dem Hof herum und überlegt, wohin das Tor kommt. Auf einer Seite leuchten die Mais- und Sonnenblumenfelder, auf der anderen hört man die Hühner und Ziegen des Nachbarn. Zu klein? Daran verliert Milosava Gnjatović keine Gedanken. "Es gehört uns. Nur das zählt", sagt sie, als die Karawane der Politiker, Reporter und Kameraleute weiterzieht.