Ein schwieriges Jahr für die Bundeswehr
27. Dezember 2010In Selsingen rufen die Glocken der Sankt-Lamberti-Kirche zum Trauergottesdienst. Über die Särge der drei Bundeswehrsoldaten sind schwarz-rot-goldene Fahnen gebreitet - sie starben am Karfreitag bei einem Überfall der Taliban. Die Soldaten nennen das, was sie in Afghanistan erleben, Krieg. Tod und Verwundung sind allgegenwärtig, Frieden und Stabilität am Hindukusch in weite Ferne gerückt.
Neun Jahre nach Beginn des Einsatzes weiß die Politik keinen Ausweg aus dem Dilemma. "Unser Einsatz in Afghanistan wird nicht einen Tag länger dauern als unbedingt erforderlich", sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel, die erstmals an einer Trauerfeier für in Afghanistan gefallene Soldaten teilnimmt. "Aber wir können uns genauso wenig von heute auf morgen aus unserer politischen Verantwortung für ein stabiles Afghanistan einfach so verabschieden." Im Dezember 2010 wird Außenminister Guido Westerwelle ankündigen, der deutsche Abzug werde wie der Abzug der US-Amerikaner Ende 2011 beginnen.
Weitere Tote und Traumatisierungen
Der Preis für den deutschen Einsatz ist hoch: Schon zwei Wochen nach dem Gefecht vom Karfreitag sterben erneut vier deutsche Soldaten in Afghanistan, im Oktober ein weiterer. Im Dezember kommt ein 21-jähriger Soldat durch ein Unglück ums Leben. Kanzlerin Merkel ist zum Truppenbesuch in Afghanistan, sie spricht auf der Trauerfeier. Zu den deutschen Soldaten sagt sie: "Wir haben hier nicht nur kriegsähnliche Zustände, sondern Sie sind in Kämpfe verwickelt, wie man sie im Krieg hat."
Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) verleiht 2010 erstmals posthum eine neue Medaille für Soldaten, die im Gefecht gestanden haben. Immer mehr Soldaten kommen traumatisiert aus Afghanistan zurück und brauchen Hilfe von Psychologen.
Zu groß, zu teuer: Umbau der Bundeswehr
Aber der gefährliche Einsatz in Afghanistan ist nicht die einzige Herausforderung für die Soldaten: Zu Hause steht die Bundeswehr vor der radikalsten Reform in ihrer Geschichte. Die Armee sei zu teuer, heißt es im politischen Berlin, zu groß und zu schwerfällig. "Wenn wir bei 252.000 Soldaten lediglich 7000 Soldaten in den Einsatz schicken können und dabei schon über Kante genäht sind", so Guttenberg, dann sei das nichts, was einem die Tränen der Euphorie in die Augen treibe. "Das zeigt, was man verbessern muss und was man verbessern kann."
Also ruft der Minister Experten zusammen, die die Struktur der Armee auf Herz und Nieren prüfen. Die Reformkommission empfiehlt, die Bundeswehr deutlich zu verkleinern und effizienter zu machen. Statt 250.000 Soldaten soll sie künftig maximal 185.000 haben. Das ist nur zu erreichen, wenn die Wehrpflicht wegfällt. Bisher war der Minister ein glühender Verfechter der Wehrpflicht, nun verkündet er ihr baldiges Ende. "Wenn mir das vor einem Jahr jemand prophezeit hätte, ich glaube, ich hätte ihn unter wüsten Beschimpfungen aus dem Raum gejagt!"
Abschied von der Wehrpflicht
Die Bundeswehr soll eine Berufsarmee werden? Die Unionsparteien CDU und CSU sind entsetzt. Schließlich ist die seit 1957 bestehende Wehrpflicht eine fast heilige Institution der deutschen Sicherheitspolitik. Am Ende setzt Guttenberg sich durch: In der Praxis sei die Wehrpflicht ungerecht, teuer und militärisch nicht mehr notwendig, argumentiert er. Voraussichtlich ab März 2011 werden keine jungen Männer mehr eingezogen, im Juli wird die Wehrpflicht offiziell ausgesetzt. Stattdessen sollen pro Jahr 35.000 Männer und Frauen freiwillig gemeinnützige Arbeit leisten können.
Während die Bundeskanzlerin den Generälen leichthin "Spaß an der Veränderung" wünscht, ist die Opposition weniger begeistert von der Radikalkur: Eine attraktive Freiwilligenarmee werde teurer und nicht billiger. Auch die stärkere Ausrichtung auf Auslandseinsätze - mindestens 10.000 Soldaten sollen künftig zeitgleich im Einsatz sein können - stößt auf Kritik. "Die Bundeswehrreform dient der weiteren Militarisierung der Außenpolitik, sie dient einer weltweiten Interventionspolitik", kritisiert die linke Bundestagsabgeordnete Inge Höger.
In den Umfragen ganz oben
Fest steht, dass von den sperrigen Strukturen aus der Zeit des Kalten Krieges nicht viel übrig bleiben wird, wenn die Reform in den nächsten Jahren gelingt. Auch das Verteidigungsministerium, das seinen ersten Dienstsitz in Bonn und einen zweiten in Berlin hat, soll deutlich schlanker und effizienter werden. Proteste gegen Standortschließungen, Unruhe in der Truppe, lästige Baustellen bei laufendem Betrieb - Minister Guttenberg wird es aushalten müssen. Bisher haben seine eiligen Reformpläne und sein oft schneidiges Auftreten seinem exzellenten Ruf nicht geschadet - in Umfragen sammelt er regelmäßig die meisten Sympathiepunkte. So mancher Unions-Politiker wünscht sich den 39-Jährigen schon jetzt als nächsten Kanzlerkandidaten.
Autorin: Nina Werkhäuser
Redaktion: Klaus Dahmann/Andrea Grunau