Oberrabbiner aus Polen hilft Ukraines Juden
14. März 2022Wir erreichen Michael Schudrich per Video-Gespräch in Warschau. Der Oberrabiner Polens muss gähnen, er hat nächtelang kaum geschlafen. Die Menschen "sind schockiert, am Boden zerstört, wütend. Dankbar, dass sie lebend rausgekommen sind", sagt Schudrich, der seit Kriegsbeginn zwischen Warschau und der polnisch-ukrainischen Grenze pendelt.
"Was wir von hier aus tun können, ist, dass wir dafür sorgen, wenn eine Person die Grenze überquert, dass jemand da ist, um sie zu begrüßen und sie an einen Ort zu bringen, wo sie schlafen können, wo sie zu essen bekommen, wo sie medizinisch versorgt werden können, wo sie Rechtsbeistand bekommen können." In Warschau dient das Begegnungszentrum der US-amerikanisch-jüdischen Studierendenorganisation Hillel tagsüber als Mutter-Kind-Zentrum, schlicht weil die Wohnungen der vielen jüdischen Gemeindemitglieder, die Menschen aufnehmen, zu klein sind.
Suche nach Unterkünften schon vor Kriegsbeginn
Schudrich und sein Team konnten gleich zu Kriegsbeginn Ersthilfe für jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine anbieten, weil sich der Oberrabbiner eine Woche zuvor ans Telefon gesetzt und die jüdischen Gemeinden in Polen abtelefoniert hatte. Ein jüdisch geführtes Hotel in Lublin in Ost-Polen hat sich vorab auf Flüchtlinge eingestellt, Studien- und Gemeindezentren in und um Warschau genauso.
“Ich dachte, es sei besser, eine Woche vorher mit der Suche nach Unterkünften und dem Aufbau eines Empfangssystems zu beginnen”, so Schudrich. Im besten Falle hätte es keinen Krieg gegeben und sie wären trotzdem vorbereitet gewesen. Zumindest etwas, denn: auch er habe nicht vorausgesehen, "was Putin jetzt macht – das Bombardieren und Zerstören von Stadt für Stadt."
Spendenaufruf für Anmietungen
Bei seinen Rundtelefonaten durch das jüdische Leben in Polen hat er gefragt: "Hört zu, wir wissen, was passieren wird, aber seid ihr bereit, diese Orte zu einem Zufluchtsort für Flüchtlinge zu machen? Alle haben natürlich 'Ja' gesagt. Ja, ja. Vor dem Krieg. Als er anfing, konnten wir sagen: okay, wir können Leute hierher und dorthin schicken, und jetzt sind wir im Grunde genommen voll."
Schudrich bittet deshalb um Spenden an die jüdischen Gemeinden von Warschau, um weiteren Wohnraum anmieten zu können. Doch auch das werde schwer, in Polen war der Immobilienmarkt schon vor dem Krieg angespannt. Sein Team will der Oberrabiner jetzt mit einem Wohnwagen an die polnisch-ukrainische Grenze schicken, um wenigstens eine Erstanlaufstelle für die Flüchtlinge anbieten zu können.
In der Zwischenzeit ist die "Jewish Agency for Israel" an den EU-Grenzen zur Ukraine präsent. Die Agentur bewerkstelligt vor allem Übersiedlungen nach Israel, will aber auch anderen gestrandeten Flüchtlingen der jüdischen Gemeinden in der Ukraine helfen. Sie hätten seit Kriegsbeginn "mehr als 6000 Menschen betreut", sagt Roman Polonski im Gespräch mit der DW. Der für die Länder der früheren Sowjetunion, Ostmitteleuropa und Deutschland zuständige Regionaldirektor steuert Helfer in Polen, Ungarn, Rumänien und der Republik Moldau.
Flüge auf dem Weg nach Israel
Anfang der Woche seien allein drei Flüge mit Flüchtenden aus der Ukraine von Budapest und Bukarest nach Israel gestartet. Mehr als 140 Busse seien bislang aus der Ukraine in EU-Staaten gelotst worden. Polonski und seine Mitarbeiter sind in Kontakt mit vielen Rabbinern in der Ukraine. Und dennoch kann auch er kein genaues Bild der humanitären Lage in den am meisten umkämpften Städten wie die Großstadt Charkiw zeichnen, die seit Tagen ein Flächenbombardement von Putins Truppen erleiden muss.
In Charkiw und auch im südlicher gelegenen Dnipropetrowsk gab es vor dem Krieg mehrere große jüdische Gemeinden. Ihr genaues Schicksal im Moment – ungewiss. Dass hier überhaupt nach dem Ende der Sowjetunion wieder vitales jüdisch-religiöses Leben möglich werden konnte, hätte vor 30 Jahren niemand vorausgesagt. Und jetzt dieser Krieg. "Ich hoffe wir können bald die psychologische Betreuung für die Flüchtenden aus der Ukraine ausbauen", so Oberrabiner Michael Schudrich in Warschau.
Hoffen auf Wirkung der Sanktionen gegen Putin
Schudrich habe auch keine Antwort auf die Frage, wie es in der Ukraine auch noch zu diesem Krieg kommen konnte, sagt er. "Wir haben die Erfahrung aus dem 20. Jahrhundert, als Deutschland als kultivierteste, intellektuelle Nation den schlimmsten Völkermord der Geschichte begangen hat".
Die Ukraine war Schauplatz der größten Massenexekutionen der deutschen Wehrmacht an der jüdischen Bevölkerung. Es gibt keine jüdische Familie in der Ukraine, die nicht Angehörige im Holocaust verloren hat. Der Unterschied zu heute aber sei, dass die Welt doch etwas gelernt habe, so Schudrich: "Wenn Hitler die gleichen Sanktionen gehabt hätte, die Putin jetzt hat, hätte der Krieg ganz anders verlaufen können. Auch der Holocaust hätte ganz anders ausfallen können."