Wahlverlierer in guter Stimmung
18. März 2015Das Wahlergebnis erfährt Jens Reich am Steuer seines "Trabi"aus dem Autoradio. "Meine Frau und ich waren unterwegs zum Haus der Demokratie in der Berliner Friedrichstraße, dort wollten wir uns mit Freunden treffen", erinnert sich der damalige Spitzenkandidat der DDR-Bürgerbewegung. Doch die Reichs sind spät von zu Hause losgefahren, und so hören sie die Prognose über den Ausgang der ersten freien Volkskammerwahl noch im Auto. "Es war an einer roten Ampel in der Schönhauser Allee, Ecke Eberwalder Straße", sagt der heute 75-jährige Molekularbiologe, "meiner Frau und mir klappte der Unterkiefer herunter".
Denn die ersten freien Wahlen in der Geschichte der DDR am 18. März 1990 bringen für die Helden des Revolutionsherbstes, die sich im "Bündnis 90" zusammengeschlossen haben, das magere Ergebnis von 2,9 Prozent der Wählerstimmen. Triumphierender Sieger ist dagegen die "Allianz für Deutschland", ein christlich-konservatives Bündnis. Ihre wichtigste Kraft ist die Christlich Demokratische Union (CDU) der DDR, die erst im Wendeherbst 1989 der Staatspartei SED die jahrzehntelange Gefolgschaft aufgekündigt hatte. Ihr offizieller Spitzenkandidat heißt Lothar de Maizière, ein Ostberliner Rechtsanwalt. Doch der heimliche Wahlsieger ist Helmut Kohl.
"Ziemlicher Schreck" für den Sieger
Der spätere "Kanzler der Einheit" hat, wie die Politprominenz anderer westdeutscher Parteien, direkt in den DDR-Wahlkampf eingegriffen und "blühende Landschaften" im Osten versprochen. Sechs Mal tritt Kohl in ostdeutschen Städten auf, umjubelt von Zehntausenden, die schwarz-rot-goldene Fahnen schwenken. 20 Millionen Flugblätter und fünf Millionen Zeitungen zur Wahl bringt die "Allianz für Deutschland" unters Volk.
Der entschiedene Kurs in Richtung schnelle Wiedervereinigung und Einführung der D-Mark in der DDR bescheren der einstigen "Blockpartei" CDU und ihren Verbündeten 48 Prozent der Stimmen. Spitzenkandidat Lothar de Maizière bekommt beim Verkünden des haushohen Sieges "einen ziemlichen Schreck", wie er Jahre später in einem Interview mit der Deutschen Welle bekennt. Denn sein Auftrag ist es nun, die DDR nach 40 Jahren Sozialismus möglichst schnell mit der Bundesrepublik zu vereinen und aufzupassen, dass die Interessen der Ostdeutschen dabei nicht unter den Tisch fallen. Eine gewaltige Aufgabe für den kleinen, schmächtigen Protestanten, der bei gemeinsamen Auftritten neben dem massigen Katholiken Kohl noch winziger wirkt. Die Wahlen, sagt de Maizière in dem DW-Interview, seien ein "Plebiszit für die deutsche Einheit" gewesen: "Sie sind von den Menschen danach entschieden worden, wer sagt am entschiedensten, dass das Ziel die deutsche Einheit ist".
Unbrauchbare Prognosen
Ähnlich sieht das im Rückblick Stefan Hilsberg, der im Herbst 1989 die Sozialdemokratischen Partei der DDR mitbegründet hat: "Die deutsche Einheit hat den Wahlkampf dominiert. Dass dieses Thema dem Kanzler der Bundesrepublik in die Hände arbeiten würde, war klar, da waren wir chancenlos". Die SPD in West wie Ost plädiert 1990 für einen langsameren Weg in die deutsche Einheit, "nicht Anschluss sondern Zusammenschluss" verkündet der Vorsitzende der westdeutschen Sozialdemokraten, Willy Brandt, auf einer Kundgebung in Dresden. Doch die Menschen in der DDR wollen nicht länger warten, zumal ihr Staat Auflösungserscheinungen zeigt. Auf der Straße heißt es schon längst nicht mehr "Wir sind das Volk" sondern "Wir sind ein Volk". Ministerpräsident Hans Modrow von der SED-Nachfolgepartei PDS spricht Ende Januar 1990 von einer "besorgniserregenden ökonomischen Lage". Die Rechtsordnung werde in Frage gestellt und die Ausreisewelle halte unvermindert an. 55 000 Menschen haben im selben Monat die DDR verlassen. Unter dem Druck der Ereignisse ist auch die Volkskammerwahl um anderthalb Monate vorverlegt worden. Die Sozialdemokraten haben sich schließlich gefügt, zumal manche Umfragen ihnen sogar den Sieg versprechen. Doch das erweist sich als Fehlprognose: Die Institute in der DDR arbeiten mit Telefonumfragen, doch nur ein Bruchteil der normalen Bevölkerung besitzt überhaupt einen Telefonanschluss.
Ein Parlament, das seinen Namen verdient
Trotzdem erinnert sich Sozialdemokrat Stefan Hilsberg später an ein "ungeheures Triumphgefühl" am Wahlabend, denn "diese Wahlen durchgesetzt zu haben und sie dann auch erleben zu können, hat einen glücklich gemacht". Über 93 Prozent der Wahlberechtigten geben ihre Stimmen ab, erstmals nicht für die Einheitsliste, sondern für 24 Parteien und Bündnisse, darunter Exoten wie die "Deutsche Biertrinker Union". Niemand verlangt mehr ein öffentliches Wahlzettelfalten als Bekenntnis zu den Kandidaten der Nationalen Front", sondern jeder kann in die Wahlkabine gehen, um wirklich geheim abzustimmen. Und das am Abend verkündete amtliche Endergebnis stimmt mit der Auszählung in den Wahllokalen überein.
Auch auf der Wahlparty der Bürgerbewegung sind an jenem Sonntag im März 1990 die Gefühle zwiespältig. Man weiß, dass die geringe Zustimmung nicht nur mit den finanziellen und organisatorischen Nachteilen im Wahlkampf zu tun hat. Auch das Ziel einer reformierten DDR, die schrittweise in die deutschen Einheit gehen soll, ist nicht mehrheitsfähig unter der eigenen Bevölkerung. Trotzdem habe er am Abend des 18. März keine "Selbstmordgedanken" gehabt meint der damalige Spitzenkandidat Jens Reich trocken: "Ich weiß, dass ich nicht bedrückt und unglücklich war damals im Haus der Demokratie, wo sich die Geschlagenen sammelten und manche sagten, um Gottes Willen, wie hat das Volk gewählt." Es ist die anhaltende Euphorie des Aufbruchs in der DDR, die Reich an jenem Abend seine gute Stimmung bewahren lässt: "Wir hatten erstmals ein Parlament, das seinen Namen verdiente."
Das beste Jahr der DDR
Die siegreiche Allianz für Deutschland lädt allerdings nur Sozialdemokraten und Liberale zu einer großen Koalition ein. Führende Köpfe der Bürgerbewegung, die den Impuls für die friedliche Revolution gegeben haben, bleiben außen vor und nehmen ebenso wie die Vertreter der SED-Nachfolgepartei PDS auf den Oppositionsbänken Platz. "Es war ernüchternd, dass dies das vorläufige Ergebnis des Herbstes ´89 war", erinnert sich Reich. Wie die meisten seiner Fraktionskollegen stimmt er später gegen die schnelle Einführung der D-Mark und den eilig zusammengezimmerten Einigungsvertrag."Unsere Opposition war sachlich, nicht ideologisch. Es ging darum, dass grundsätzliche Entscheidungen nicht genügend diskutiert und geprüft werden konnten, ob sie tatsächlich auf die Verhältnisse der DDR zugeschnitten waren." Trotzdem sei die Bilanz jener Monate positiv, sagt der emeritierte Professor. Die DDR habe zwischen Herbst 1989 und Herbst 1990 "ihr bestes Jahr" erlebt. "Und wir wussten", setzt er hinzu, "dass die Spaltung Deutschlands, unter der wir Jahrzehnte lang gelitten hatten, zu Ende geht".