Ein Kuss schreibt Geschichte
4. Februar 2014"Ohne Dich kann ich nicht leben" - nach der gegenseitigen Liebeserklärung der beiden Darsteller Félix (Mateus Solano) und Niko (Thiago Fragoso) gab es kein Halten mehr. Während der besten Sendezeit fieberten Millionen Zuschauer dem ersten "schwulen Kuss" im brasilianischen Privatfernsehen "TV Globo" entgegen.
Am 31. Januar war es endlich soweit. Der Kuss dauerte zwar nur wenige Sekunden. Doch die kurze Szene reichte aus, um ganz Brasilien in Aufregung zu versetzen. Mit der lang erwarteten Szene im letzten Kapitel der Seifenoper "Amor à Vida" (Liebe zum Leben) rund um Familie Khoury, die ein Krankenhaus betreibt und Sohn Felix, der lange versuchte, seine Homosexualität zu verbergen, brach der zweitgrößte Privatsender der Welt ein Tabu.
"Wenn ein Sender wie Globo mit internationaler Reichweite ein Thema wie dieses besetzt, löst dies eine riesige Diskussion aus", sagt João Clemente de Souza Neto, Soziologe an der Universität Mackenzie in São Paulo. "Ich sehe das als eindeutigen Fortschritt in der hiesigen Menschenrechtsdebatte."
Wachsende Sympathie
Noch bis vor kurzem war Homosexualität in der brasilianischen Gesellschaft verpönt. Nach einer Studie der Universität São Paulo aus dem Jahr 2009 hegten damals 99 Prozent der brasilianischen Bevölkerung Vorurteile gegenüber homosexuellen Männern. Ein Viertel der Einwohner galt als homophob. Besonders stark war die Abneigung unter Männern.
Doch die Zeichen im angeblichen Macholand Brasilien stehen auf Veränderung. Im Jahr 2011 stellte Brasiliens Verfassungsgericht "Supremo Tribunal Federal" die Heirat zwischen hetero- und homosexuellen Paaren rechtlich gleich. Die Zustimmung zu homosexuellen Partnerschaften liegt mittlerweile bei 40 Prozent - so das Ergebnis einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes "MDA Pesquisas" aus dem Jahr 2013.
"Ohne die Zustimmung der Bevölkerung hätte es auch keinen Kuss gegeben", meint Carlos Magno Fonseca, Vorsitzender brasilianischen Schwulen-und Lesben Vereinigung (ABGLT). Die Erwartung der Zuschauer sei groß gewesen. Das homosexuelle Paar habe langsam, aber sicher die Zuneigung des Publikums gewonnen. "Trotz einer möglichen Abneigung vieler Zuschauer wurde der Kuss irgendwann unausweichlich", urteilt Fonseca.
Seifenoper als Politikum
Die Telenovelas des brasilianischen TV Senders "Globo" sind wegen ihrer enormen Reichweite längst zum Politikum avanciert. Seit Jahrzehnten ziehen die Seifenopern dreimal am Tag Millionen von Zuschauern in ihren Bann. Ob Familienfehden, Klassenkämpfe, Frauenhandel, Rassismus oder eben Homosexualität - die Serien spiegeln aktuelle gesellschaftliche Debatten wider und bereiten sie extrem emotional auf.
Der Kampf um die kulturelle Deutungshoheit der gleichgeschlechtlichen Liebe schwelt hinter den Kulissen schon lange. Bereits 1990 zeigte der mittlerweile eingestellte brasilianische TV-Sender "Manchete" ein homosexuelles Paar bei einem schüchternen Kuss. Die Zärtlichkeiten, bewusst im Gegenlicht gedreht, verschwanden im Dunkeln und sorgten deshalb nicht für großes Aufsehen in der brasilianischen Öffentlichkeit.
Ausgebremste Künstler
"Wir haben alle schon versucht, den schwulen Kuss ins Fernsehen zu bringen", erklärt Drehbuchautor Manoel Carlos gegenüber der brasilianischen Presse. Schon 2005, bei der Novela "América", hätte es einen Vorstoß gegeben. "Doch Globo war dagegen. Der Sender wollte eine solche Szene einfach nicht ausstrahlen", erinnert er sich.
Für den jüngsten Kurswechsel bei "Globo" macht Soziologe João Clemente daher nicht etwa einen plötzlichen Gesinnungswechsel, sondern schleichende Veränderungen in der brasilianischen Gesellschaft verantwortlich. "Ich denke nicht, dass Globo jetzt progressiver ist", sagt Clemente. "Es geht schlicht um Einschaltquoten und den zunehmenden Druck gesellschaftlicher Gruppen". Auch konservative Kräfte kämen irgendwann an ihre Grenzen. Globo habe nachgeben müssen, sonst wären andere Sender vorgeprescht.
In Sachen gleichgeschlechtlicher Liebe waren übrigens Brasilianerinnen die eigentlichen Pioniere. Der erste explizit lesbische Kuss wurde bereits 1964 im Fernsehkanal "TV Tupi" im Rahmen der Sendung "Die Verleumdung" ausgestrahlt. 2011 nahm sich der brasilianische Sender SBT des Themas an. In einer Folge der Novela "Liebe und Revolution" tauschten die beiden Protagonistinnen Luciana Vendramini und Giselle Tigre 40 lange Sekunden Zärtlichkeiten untereinander aus.
Den Männern hinter der Kamera gefielen die küssenden Frauen. Dass aber auch Männer eines Tages ihre homosexuelle Liebe vor der Kamera zeigen würden, konnten sie sich damals noch nicht vorstellen.