Flugtickets für Flüchtlinge
17. Dezember 2019Der Weg ins vermeintliche Paradies dauert ziemlich genau 120 Stunden, also fünf volle Tage. Von Cúcuta, dem kolumbianischen Grenzort zu Venezuela, in die Hauptstadt Bogotá. Von 320 auf 2640 Höhenmeter, vorbei an einigen Gebirgspässen im Altiplano von über 3.000 Metern Höhe.
Jeden Tag nehmen hunderte Venezolaner diesen Weg, direkt neben der Landstraße, mit schweren Rucksäcken auf den Rücken und Kindern auf dem Arm, häufig ohne Jacke und nur mit Flip-Flops an den Füßen. Und jeden Tag sterben auf diesem Weg Menschen, vor allem Kinder, an Entkräftung, wegen der Kälte oder weil ihre Lungen wegen der Höhenluft zusammenklappen.
Seit der venezolanische Präsident Nicolás Maduro den Machtkampf gegen den selbsternannten Interimspräsidenten Juan Guaidó Anfang 2019 gewonnen hat, erfährt man in Deutschland über das Schicksal dieser Flüchtlinge aus Venezuela wenig bis gar nichts mehr. Dabei ist der Flüchtlingsstrom alles andere als abgerissen, im Gegenteil. Mittlerweile sind 4,8 Millionen Venezolaner wegen der Staatskrise aus ihrer Heimat geflohen. 3,9 Millionen von ihnen in Länder der Region, dabei vor allem ins Nachbarland Kolumbien.
"Weil Länder wie Ecuador, Peru oder Chile ihre Einreisebestimmungen verschärft haben, besteht die Gefahr, dass Kolumbien über kurz oder lang mit den Flüchtlingen aus Venezuela überfordert wird, " sagt Olga Sarrado, Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, zur Situation in Venezuela, "Die Schulen und Krankenhäuser in Kolumbien sind jetzt schon überfüllt. Die südamerikanische Region muss die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen, damit nicht nur ein Aufnahmeland die ganze Last trägt."
"Best Practice" in Brasilien
Im sogenannten Quito-Prozess sollte eigentlich genau das passieren. Dort haben sich im November in Kolumbien erneut Vertreter aus Ländern der Region getroffen, um die Integration venezolanischer Flüchtlinge in das Bildungs- und Gesundheitssystem sowie in den Arbeitsmarkt gemeinsam voranzutreiben. Ein Beispiel aus Brasilien zeigt, wie konkrete Flüchtlingshilfe aussehen kann, so Sarrado: "Die Flüchtlinge, die in der strukturschwachen Grenzprovinz Roraíma ankommen, werden gratis mit dem Flugzeug in die Städte geflogen, in denen ein Mangel an Facharbeitern herrscht."
Ein Programm, das das Flüchtlingshilfswerk zusammen mit anderen Menschenrechtsorganisationen und brasilianischen Behörden entwickelt hat. "Wenn also ein Mechaniker in São Paulo gesucht wird, kann sich ein Venezolaner direkt nach dem Grenzübertritt dort bewerben, und er bekommt neben dem Flug kostenlosen Portugiesisch-Unterricht und Wohngeld für die ersten Monate", erklärt Olga Sarrado.
Weniger Geld, mehr illegale Flüchtlinge
Dieses sogenannte "Best Practice"- Beispiel wird auf dem Globalen Flüchtlingsforum in Genf vorgestellt, dem ersten weltweiten Treffen zur Situation von Geflüchteten nach Verabschiedung des Globalen Flüchtlingspaktes vor einem Jahr. Ein weiteres Beispiel, das weltweit Schule machen könnte, ist die bessere Koordinierung der Hilfsorganisationen untereinander.
"Das Flüchtlingshilfswerk gehört mit der Internationalen Organisation für Migration oder auch Save the Children zu den 137 Organisationen in Lateinamerika, welche ihre Aktivitäten in 17 Ländern der Region gemeinsam koordinieren und abstimmen, zum Beispiel auch einen Finanzplan entwerfen, wie viele Gelder in welchen Projekten im nächsten Jahr gebraucht werden", erklärt die Sprecherin des UNHCR zur Situation in Venezuela.
Dabei sei es lebenswichtig, dass die internationale Gemeinschaft ihre finanziellen Zusagen einhalte, mahnt Olga Sarrado: "Wir haben für 2019 gerade einmal 50 Prozent der zugesagten Gelder bekommen und mussten deswegen viele Projekte streichen. Dies hat auch zu einem Anstieg der illegalen Grenzübertritte geführt."
Positives Beispiel Uganda
Dominik Bartsch gehört zu denjenigen, die beim Globalen Flüchtlingsforum in Genf dafür werben, dass die Geberländer ihre Versprechungen einhalten. Der Repräsentant des UNHCR in Deutschland sieht zwar auch, dass nur wenige Länder das UN-Flüchtlingskommissariat mit mehr als 20 Millionen US-Dollar jährlich unterstützen – vor einem Jahr waren es gerade einmal 15 -, sieht aber trotzdem Fortschritte ein Jahr seit Annahme des Globalen Flüchtlingspaktes: "Wir haben in vielen Ländern beim Flüchtlingsschutz große Fortschritte erzielt."
Bartsch nennt als Beispiel Uganda, das seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Südsudan mehr als einer Million Flüchtlingen Schutz gewährt hat. Zugleich mahnt er Hilfe für die Nachbarländer von Syrien an – dem mit fast sieben Millionen Menschen größten Herkunftsland von Flüchtlingen: "Die internationale Gemeinschaft muss es schaffen, den Menschen, die in der Region Schutz gefunden haben, Perspektiven zu bieten."
Eine Perspektive sei nicht nur das Allernotwendigste zum Überleben, die Nahrungsmittel, das Wasser oder auch die Gesundheitsversorgung, so Bartsch: "Es heißt auch, dass die Kinder in die Schule gehen können. Und dass Menschen, die schon seit acht Jahren in den Lagern leben, Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten und sich so eine würdevolle Existenz aufbauen können."
Mehr Geld für Aufnahmeländer
Vier von fünf Flüchtlingen weltweit leben in einigen wenigen Ländern im globalen Süden wie zum Beispiel im Libanon, oft unter katastrophalen Bedingungen. Dominik Bartsch fordert eine zusätzliche Unterstützung dieser Länder. Gleichzeitig schlägt er für die Staaten, die sich weder als finanzielle Geber noch als Aufnahmeländer engagieren, eine andere Beteiligung vor: "Diese könnten zum Beispiel Flüchtlingen ein Studium ermöglichen. Also ein temporäres Visum ausstellen, um in ihrem Land studieren zu können."
Deutschland, das seit 2015 mehr als eine Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, soll dagegen wie die Projekte zu Venezuela als "Best -Practice"-Beispiel dienen. "In Genf geht es auch darum, Ansätze und Erfahrungen, die zum Beispiel Deutschland gesammelt hat, anderen Staaten mitzuteilen und zu eruieren, inwieweit sie in einem anderen Kontext anwendbar sind," erklärt der Repräsentant des UNHCR in Deutschland und fordert einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz.
"Viele der großen Firmen in Deutschland wie zum Beispiel VW haben spezielle Ausbildungs- und Trainingsprogramme aufgelegt und so den Geflüchteten geholfen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen," erklärt Dominik Bartsch und erhofft sich von dem Globalen Flüchtlingsforum in Genf einen starken Impuls für die Zukunft: "Das Treffen soll nachhallen und nicht nur ein Treffen einmal alle vier Jahre sein, sondern tatsächlich einen neuen Prozess lostreten und eine neue Solidarität schaffen."