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Was geschah vor einem Jahr in Ilowajsk?

Roman Goncharenko29. August 2015

Am 29. August 2014 erlitt die ukrainische Armee ihre wohl größte Niederlage in der Ostukraine. Kiew wirft Russland vor, in die Schlacht um Ilowajsk massiv eingegriffen zu haben. Die DW sprach mit Augenzeugen.

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Ukraine Kämpfe in Ilowajsk (Foto: DW/Olexij Antipow)
Bild: O. Antipow

Die weiße, vom hellen Tageslicht durchflutete Halle eines Museums in der Kiewer Stadtmitte wirkt steril. Man spürt einen starken Kontrast zu den rund 30 Fotos, die an den Tafeln hängen. Sie zeigen Krieg: blutüberströmte Soldaten, kaputte Panzer. "Es ist schwer zu verstehen, dass dieser Krieg gleichzeitig mit unserem normalen Leben passiert", sagt Ljudmyla Dawydowska, eine Museumsmitarbeiterin. "Wenn man auf die Gesichter schaut, wird einem klar, dass viele nicht mehr leben."

Wendepunkt im Kriegsverlauf

Ausstellung in Kiew über die Kesselschlacht von Ilowajsk (Foto: Foto DW/Roman Goncharenko)
Ausstellung in Kiew über die Kesselschlacht von IlowajskBild: DW/R. Goncharenko

Die Ausstellung widmet sich der Kesselschlacht um die ostukrainische Stadt Ilowajsk vor einem Jahr. Diese Schlacht gilt als die größte Niederlage der Ukraine im Krieg gegen prorussische Separatisten. Die Behörden in Kiew haben rund 370 bestätigte Todesopfer gezählt, rund 160 Menschen werden vermisst. Andere Quellen sprechen von rund 1000 Toten. Die meisten fielen bei einem Ausbruchversuch am 29. August 2014. Am ersten Jahrestag kommen Überlebende und Opferfamilien nach Kiew, um der Gefallenen zu gedenken.

Olexander Hljadelow ist einer von vier Fotografen, dessen Werke hier ausgestellt sind. Im August 2014 begleitete er das ukrainische Freiwilligenbataillon "Donbass" und wurde in Ilowajsk verwundet. "Man hatte das Gefühl, es sei eine Falle", sagt Hljadelow. "Der Gegner war deutlich stärker als gedacht."

Karte Ostukraine (Grafik: DW)

Es sind nicht nur die hohen Verluste, die Ilowajsk besonders machen. Es war ein Wendepunkt. Dort wurde eine Offensive der ukrainischen Armee gestoppt. Die Regierung sah sich zu Verhandlungen mit Separatisten gezwungen und unterzeichnete Anfang September das erste Waffenstillstandsabkommen von Minsk. Heute steht für Kiew fest: Der Hauptgrund für die Niederlage sei "eine Invasion der russischen Streitkräfte". So sieht es die ukrainische Staatsanwaltschaft, die ihre vorläufigen Untersuchungsergebnisse Mitte August vorgestellt hatte. Russland bestreitet den Einsatz seiner Armee in der Ostukraine. Wie viel Schuld die ukrainische Armeeführung trägt, sorgt bis heute für Kontroversen. Die Staatsanwaltschaft lässt sich damit Zeit.

Strategischer Eisenbahnknoten

Wer nach Antworten sucht, muss auf die Ereignisse zuvor blicken. Im Sommer 2014 begann die ukrainische Armee eine Großoffensive und verdrängte die Separatisten aus großen Teilen der Ostukraine. Das Städtchen Ilowajsk, ein wichtiger Eisenbahnknoten, hatte strategische Bedeutung. Um es einzunehmen wurden aber Freiwilligenbataillone und nicht die reguläre Armee geschickt.

Olexij Antipow aus dem ostukrainischen Charkiw war gerade einige Wochen an der Front, als er am 18. August 2014 als Scharfschütze des Freiwilligenbataillons "Donbass" nach Ilowajsk vorgerückt war. "Wir mussten die Stadt unter Kontrolle bringen, um den Nachschub für die Separatistenhochburg Donezk zu kappen", erinnert sich der 37-Jährige. Es sei gelungen, das halbe Ilowajsk einzunehmen, doch für die ganze Stadt fehlten die Kräfte. "Schon damals warnten Einige, dass Russland uns in den Rücken fallen könnte", sagt Antipow. "Doch viele konnten sich so einen gemeinen Schlag nicht vorstellen, ich auch nicht."

Angriff im Schatten des Nationalfeiertags

Genau so kam es offenbar. Die NATO meldete Ende August 2014 "direkte militärische Einsätze" Russlands in der Ostukraine. Andrij Sentschenko war Leiter des Untersuchungsausschusses im Fall Ilowajsk im ukrainischen Parlament. Der Ausschuss konnte feststellen, dass ab dem 23. August 2014 russische Streitkräfte "massiv" über die Grenze in die Ukraine eingedrungen seien – mit mehr als 3000 Mann. Es geschah an dem Tag, an dem sich die Staatsführung um einen hohen Gast gekümmert hatte: Die Bundeskanzlerin Angela Merkel kam zu Besuch. Außerdem war Kiew mit Vorbereitungen der Feier am 24. August, dem Unabhängigkeitstag beschäftigt. An diesem Tag fand in Kiew eine Militärparade statt.

Vitali Hrankin war einer der ersten ukrainischen Soldaten, der den russischen Angriff zu spüren bekam. Man habe seine Stelllung bei Ilowajsk kurz nach Mitternacht am 24. August von Russland aus von Raketenwerfern beschossen, sagt der 45-Jährige aus Charkiw. Ilowajsk liegt nur rund 50 Kilometer von der Grenze entfernt. Kurz nachdem in Kiew die Militärparade gerade zu Ende ging, sah Hrankin eine große Kolonne von rund 100 Schützenpanzern und Armeelastern auf sich zukommen. Es seien russische Fallschirmjäger gewesen. "Es waren rund 600 Mann gegen 27 auf unserer Seite, wir hatten keine Chance, ein Kampf wäre sinnlos gewesen", sagt Hrankin. "Es war klar, dass es Russen waren." An der Aussprache und der Ausrüstung der Soldaten habe er sie erkannt. Zwei Monate war Hrankin in Gefangenschaft bei den prorussischen Separatisten, bis er ausgetauscht wurde.

Olexij Antipow, ehemaliger Kämpfer des Freiwilligenbatallions "Donbass" (Foto: DW/O. Antipow)
Olexij Antipow, ehemaliger Kämpfer des Freiwilligenbatallions "Donbass"Bild: O. Antipow

Entscheidungen zu spät getroffen?

Am 29. August entschieden sich die ukrainischen Einheiten, die eingekreiste Stadt zu verlassen. Die Russen hätten einen "grünen Korridor", einen ungestörten Abgang versprochen, sagt Antipow. Heute spricht er von einem "Korridor des Todes": " Wir haben nicht damit gerechnet, dass man uns wie auf einem Schießstand abknallen wird". Zwei Kolonnen seien mitten im Feld aus Panzern und Kanonen beschossen worden. Antipow ist sich sicher, dass es Russen waren. Denn den Ukrainern sei es gelungen, einige gefangen zu nehmen. Zehn russische Fallschirmjäger wurden nach Kiew gebracht und schnell gegen ukrainische Kämpfer ausgetauscht. Der russische Präsident Wladimir Putin sagte dazu, seine Soldaten hätten sich verlaufen: "Es gibt dort keine Grenzmarkierung."

In den letzten Augusttagen 2014 geriet Antipow selbst in Gefangenschaft und kam erst im vergangenen Winter frei. Er und Hrankin erheben schwere Vorwürfe gegen die ukrainische Armeeführung. Diese habe die Gefahr eines Kessels unterschätzt und beim Rückzug aus Ilowajsk Fehler gemacht. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss moniert Kiews passive Haltung. "Unser Hauptvorwurf ist, dass es in entscheidenden Momenten keine Entscheidungen gab", sagt der Politiker Sentschenko. Man hätte nach dem Einmarsch russischer Truppen sofort reagieren sollen. Sentschenko befürchtet, dass Ermittlungen bewusst verzögert werden. Die ukrainische Staatsanwaltschaft ließ eine DW-Interviewanfrage unbeantwortet.

Vitali Hrankin (Foto: DW/Roman Goncharenko)
Vitali Hrankin, ehemaliger ukrainischer KämpferBild: DW/R. Goncharenko

"Wir wollen, dass Schuldige zur Verantwortung gezogen werden", sagt der Fotograf Olexander Hljadelow. Noch sei das nicht der Fall. Nur der damalige ukrainische Verteidigungsminister reichte im Oktober 2014 seinen Rücktritt ein.

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