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PolitikUkraine

Ein Jahr Annexion: Ukrainer über die russische Besatzung

Igor Burdyga | Anastasia Shepeleva
30. September 2023

Vor einem Jahr verkündete Russland die Annexion der ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson. Bewohner der besetzten Gebiete schildern, wie sich ihr Leben im zurückliegenden Jahr verändert hat.

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Eine Familie geht an einem zerstörten Gebäude in Mariupol vorbei
Eine Familie geht an einem zerstörten Gebäude in Mariupol vorbeiBild: AFP

In Russland wird am 30. September der erste Jahrestag des "Beitritts der neuen Regionen" gefeiert - so nennt die Kreml-Propaganda die illegale Annexion der ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson.

Aus diesem Anlass werden in der Russischen Föderation Münzen geprägt, und in den besetzten Gebieten werden Konzerte und andere Feiern organisiert, auf denen Wohlstand und Stabilität versprochen werden - aber nur, wenn die Regionen Teil Russlands sind.

Insgesamt haben aber in diesem Jahr nach verschiedenen Schätzungen ein bis zwei Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Unterdrückung und Armut diese besetzten Gebiete der Ukraine verlassen.

Die DW hat mit Bewohnern dieser Gebiete darüber gesprochen, was sich für sie im zurückliegenden Jahr verändert hat. Sie nennen verschiedene Gründe, warum sie nicht weggehen - beispielsweise, weil sie Angehörige pflegen oder kein Geld für einen Wegzug haben.

Manche bleiben, weil sie den Kreml unterstützen. Aus Angst vor Verfolgung, sowohl durch die Besatzungsmacht als auch durch die ukrainischen Behörden, baten einige Gesprächspartner, ihre persönlichen Geschichten nicht zu veröffentlichen, andere wollten lediglich nicht bei ihrem Namen genannt werden.

Versprechen lassen Jahre auf sich warten

Bewohner der sogenannten "Volksrepubliken" des Donbass und der nach der umfassenden Invasion besetzten Gebiete sind verschiedener Meinung, was den "Beitritt" ihrer Regionen zur Russischen Föderation betrifft.

Viele Menschen in den "Volksrepubliken Donezk und Luhansk", vor allem in den Städten, die von Kämpfen verschont geblieben sind, empfinden die Annektierung als Ende der wirtschaftlichen Isolation und der unsicheren Rechtslage, die dort in den vergangenen acht Jahren geherrscht hatte.

"Die Wasserversorgung funktioniert seit neun Jahren wieder rund um die Uhr", prahlt Kateryna L., eine Krankenschwester aus Luhansk. Und ihre derzeit arbeitslose Landsfrau Maryna K. ist froh, dass die Post wieder Sendungen von außerhalb der "Republik" zustellt, denn davor habe sie über die Grenze fahren müssen, um Pakete von russischen Online-Shops abzuholen.

Die Online-Shops selbst würden zudem nun auch Bankkarten akzeptieren, die vor Russlands Invasion von der russischen "Promswjasbank" ausgegeben wurden. Es ist die einzige Geschäftsbank, die noch in den besetzten Gebieten der Ukraine tätig ist. Auch die Qualität des Mobilfunks habe sich, so Maryna K., verbessert.

Ihr zufolge wurde die ukrainische Währung Hrywnja im vergangenen Jahr auch in den kürzlich eroberten Gebieten der Regionen Luhansk und Donezk vollständig aus dem Verkehr gezogen. Die Frau ist jedoch mehr besorgt über die Abwertung des Rubels gegenüber dem US-Dollar und die daraus resultierende Inflation.

Anfang September hielt Russland in den besetzten Gebieten illegale "Wahlen" ab
Anfang September hielt Russland in den besetzten Gebieten illegale "Wahlen" abBild: Alexander Reka/TASS/dpa/picture alliance

"Benzin ist um 70 Prozent teurer geworden, Original-Ersatzteile für ausländische Autos sind überhaupt nicht mehr erhältlich", klagt sie. Auch Kateryna L. ist über die hohen Preise für Lebensmittel und Kleidung empört. Über das Gehalt, das in diesem Jahr schon zweimal angehoben wurde, beschwert sich die Krankenschwester allerdings nicht.

Aber am stärksten seien in Luhansk die Preise für Immobilien gestiegen, berichtet Anna S., eine Immobilienmaklerin. Genauer gesagt, habe der Markt mit der Einführung der russischen Gesetze, des Notariats und der Immobilienregister wieder an Fahrt gewonnen.

"Heute kann man eine Zweizimmerwohnung, die im Herbst 2021 auf 8000 bis 10.000 Dollar geschätzt wurde, für 25.000 bis 30.000 Dollar verkaufen", sagt sie.

"Verschönerungsprojekte" in Mariupol

Einwohner von Luhansk und Donezk berichten, dass nach der Annexion in ihren Städten demonstrative Verschönerungsprojekte gestartet worden seien. Hauptaugenmerk liegt dabei auf Mariupol, das im Frühjahr 2022 von der russischen Armee zerstört wurde. Nach UN-Schätzungen wurden hier 90 Prozent der Mehrfamilienhäuser und 60 Prozent der Einfamilienhäuser beschädigt.

Bagger tragen beschädigte Häuser in Mariupol ab (März 2023)
Bagger tragen beschädigte Häuser in Mariupol ab (März 2023)Bild: AA/picture alliance

Die von der DW befragten Bewohner von Mariupol beklagen, es sei nicht so einfach, für ihr zerstörtes Zuhause Ersatz zu bekommen, wie die russische Propaganda vorgebe.

"Die von der russischen Verwaltung für beschädigte Wohnungen ausgestellten Papiere erlauben keine Eintragung von Eigentumsrechten an Neubauten, sondern sehen nur so etwas wie ein Recht auf langfristige kostenlose Miete vor", erläutert Larissa S., ehemalige Mitarbeiterin einer Anwaltskanzlei in Mariupol.

Um Eigentum an einer neuen Wohnung zu erwerben, müsse man nachweisen, dass das alte Haus völlig zerstört ist, und dass man weder in der Ukraine noch in Russland über andere Immobilien verfügt. Zudem müsse man viele Papiere vorlegen.

Laut den Gesprächspartnern der DW gibt es in der Stadt viele Neuankömmlinge. Nach Schätzungen der ukrainischen Behörden sind etwa 40.000 Russen nach Mariupol gezogen, das einst eine halbe Million Einwohner hatte und innerhalb von anderthalb Jahren auf 80.000 Einwohner geschrumpft ist.

Lehrer sind besonders vorsichtig

Die ehemalige Pädagogin Switlana T. beschloss, nach der Überschwemmung durch die Zerstörung des Kachowka-Wasserkraftwerks vom Ufer des Dnipro wegzuziehen. Sie kehrte zu ihren Eltern in ein kleines Dorf im Süden der Region Cherson zurück. Im gesamten Bezirk wurden in diesem Herbst nach Angaben der Besatzungsbehörden nur sechs Schulen eröffnet, vor dem Krieg waren es 30.

"In unserem Dorf gibt es weder Lehrer noch Schüler mehr. Es gibt nur noch zwei Familien mit Schulkindern. Sie wollten am Fernunterricht einer ukrainischen Schule teilnehmen, doch die russischen Besatzer zwingen die Kinder, 'normalen Unterricht' in einem Dorf zu besuchen, das 40 Kilometer entfernt ist", sagt Switlana T.

Zerstörter Damm des Kachowka-Wasserkraftwerks
Zerstörter Damm des Kachowka-WasserkraftwerksBild: Alexei Konovalov/TASS/IMAGO

Sie selbst versuchte auch, Online-Unterricht in einer ukrainischen Schule zu geben, bis im Frühjahr 2023 die Besatzer in ihrer Stadt begannen, arbeitslose Pädagogen nach ihren Einkommensquellen zu befragen.

"Sie nahmen einen meiner Freunde fest, der geholfen hatte, mit der ukrainischen Bankkarte das Gehalt abzuheben. Dann kam die Überschwemmung und am Ende beschloss ich, im Dorf zu bleiben, wo der Kontakt zu den Orks minimal ist", erzählt die Frau.

Die russischen Besatzer werden in der Ukraine in Anlehnung an die Fantasiewelt von J.R.R. Tolkien und seinem "Herrn der Ringe" oft als "Orks" bezeichnet, also als unmenschliche Wesen und willige Vollstrecker des Bösen.

Lehrer aus den besetzten Teilen der Gebiete Cherson und Saporischschja sind die vorsichtigsten Gesprächspartner. Immer mehr von ihnen sind bereit, nach russischen Lehrplänen zu unterrichten.

Auch wenn die ukrainischen Schulen weiterhin für Fernunterricht zahlen, kann man mit der ukrainischen Währung hier nicht mehr zahlen. Gleichzeitig drohen Lehrern, die an einer "russischen" Schule unterrichten, von ukrainischer Seite bis zu drei Jahren Gefängnis und ein 15-jähriges Unterrichtsverbot - wegen Kollaboration.

"In den neuen russischen Lehrbüchern beginnt die Propaganda schon auf den ersten Seiten, egal welches Fach man sich anschaut. So etwas würde ich vor den Schulkindern nicht aushalten, daher bin ich lieber arbeitslos", unterstreicht Switlana T.

Krankenwagen nur bei russischem Pass

Etwas anders stellt sich die Situation bei Ärzten dar. Bisher wurden nur von den Besatzern ernannte Krankenhausleiter wegen Kollaboration belangt. Auch Ärzte berichten, dass in den besetzten Gebieten russische Standards eingeführt würden.

Russland verteilt seit 2019 Pässe im Donbass
Russland verteilt seit 2019 Pässe im DonbassBild: Alexander Reka/dpa/TASS/picture alliance

Laut der Krankenschwester Kateryna L. aus Luhansk werden Versicherungspolicen nur mit einem russischen Pass ausgestellt. Dies motiviert die Bewohner der Stadt zusätzlich, sich neue Dokumente zu besorgen.

Halyna S., eine Bewohnerin von Enerhodar, beklagt jedoch, dass die Besatzungsbehörden dort beim Zugang zu medizinischer Versorgung offen zu Erpressung gegriffen hätten.

"Zuerst hieß es, wenn man keinen russischen Pass habe, würde auch kein Krankenwagen kommen. Dann wurde gedroht, man könne sich nicht für geplante Operationen anmelden, und in dringenden Fällen musste man sich vorher verpflichten, einen russischen Pass anzunehmen", sagt sie, obwohl sie sich nicht daran erinnern kann, dass sich Ärzte geweigert hätten, ukrainische Bürger zu behandeln.

Laut den Gesprächspartnern der DW ist es ein Jahr nach der Annektierung in den vier Regionen äußerst schwierig, ohne russische Papiere zu leben. Mit einem ukrainischen Pass bekommt man keinen Job und keine Rente überwiesen. Auch kann man den Besitz eines Autos oder einer Immobilie nicht anmelden, man bekommt keine SIM-Karte und wird in Banken nicht bedient.

Mit ukrainischen Papieren kann man jedoch weiterhin die besetzten Gebiete verlassen. Aber auch das gestaltet sich schwierig. Denn die Besatzer würden solche Personen besonders stark kontrollieren und verhören, sagt Serhij O.

Er ist Inhaber eines kleinen Busunternehmens, das Fahrten von Melitopol in die von Kiew kontrollierten Gebiete der Ukraine anbietet. "Alle werden unter die Lupe genommen, Männer werden verhört und Leibesvisitationen unterzogen", sagt er.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk