Elazar Benyoetz: "Dichter und Jude"
24. März 2022Die Flucht vor Nazi-Deutschland war seine Rettung, die Rückkehr nach Deutschland bestimmte sein literarisches Leben. 1938, als der Dichter Elazar Benyoetz gerade einmal ein Jahr alt war, flohen seine Eltern mit ihm aus Österreich ins damalige Palästina. Anfang der 1960er-Jahre ging Benyoetz nach Deutschland - zu einer Zeit, als es keine diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel gab.
In Israel wurde Elazar Benyoetz dafür damals, so sagt er, "heftigst angegriffen". Der Überlebende, der in Deutschland, im Land der Shoa, arbeiten wollte… "Mit dem Überschreiten der deutschen Grenze hatte ich keine Gemeinde mehr; mit dem Wechseln ins Deutsche keine Aussicht auf Repräsentanz", erinnert er sich. Doch für ihn war es, wie er der Deutschen Welle sagt, ein dreifacher Weg: "nach Deutschland, ins Deutsche, zu Mendelssohn", jenem bedeutenden Philosophen der Aufklärung, Moses Mendelssohn.
Große Forschungsarbeit
Der junge Benyoetz stieß in Deutschland ein gewaltiges wissenschaftliches Forschungsprojekt an, das den jüdischen Beitrag zur deutschen Geistes- und Zeitgeschichte bis zur Gegenwart aufarbeiten sollte. Heute liegt diese Arbeit vieler Kräfte unter dem Titel "Bibliographia Judaica" in 21 Bänden vor und verzeichnet alle jüdischen Autorinnen und Autoren, die jemals etwas in deutscher Sprache veröffentlicht haben.
Als Benyoetz mit der Arbeit an dem umfangreichen Archiv begann, würdigte der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno das Projekt als "wichtigen und produktiven" Plan. Bis 1968 wohnte und forschte Benyoetz dafür meist in Berlin. Die Stadt sei für ihn "Moses Mendelssohn und der Ort meiner Verwandlung".
Seit Ende der 1960er-Jahre lebt der vielfach preisgekrönte und von Germanisten hochgeschätzte Schriftsteller wieder in Israel - doch Benyoetz, der am 24. März 85 Jahre alt wird, schreibt seit bald 60 Jahren fast ausschließlich in deutscher Sprache.
Die Bücher der Emigranten
Dabei birgt Benyoetz' Lebenslauf ganz eigene Wendungen. Denn der in Wiener Neustadt unter dem Namen Paul Kloppel geborene Sohn einer jüdischen Familie wuchs im damaligen Palästina mit modernem Hebräisch als Muttersprache auf. Er wählte später den hebräischen Kunst- und Künstlernamen Elazar Benyoëtz. Das bedeutet wörtlich: "Gott hat gegeben" (Elazar) und "Sohn des Ratgebers" (Ben-Yoëtz). Auf Hebräisch veröffentlichte er erste Lyrik-Bände. Die deutsche Sprache eignete er sich später an, indem er Bücher von Emigranten kaufte und las.
Gelegentlich schildert Benyoetz einen für ihn prägenden Moment: seine Begegnung als kleiner Junge mit Else Lasker-Schüler, der großen wilden deutschen Dichterin, 1869 in Wuppertal geboren, aus Deutschland geflohen und im Januar 1945 verarmt in Jerusalem verstorben. Eine Begegnung, "als fände sie mich würdig, ihr Spielgefährte zu sein; sie legte ihre Hand auf meinen Kopf und sagte: 'Kleiner Joseph.'"
"Als ich Ende 1962, so entschlossen wie ahnungslos, zu meinem deutschen Schicksal aufbrach, wusste ich nur über zwei Dinge Bescheid: ich sei Dichter und Jude - in dieser Reihenfolge, denn ein Besessener der Dichtung war ich schon mit zwölf Jahren", so Benyoetz im Gespräch mit der DW. "Mit zwölf Jahren war mein erstes Gedicht in Druck erschienen, das war zu lesen, stand also fest, ich musste Dichter werden, Jude nicht. Damit ist nicht gesagt, dass man nicht werden soll, was man vielleicht schon ist." Und: "Deutschland peitschte den Juden [in mir] auf und hoch, die deutsche Sprache schnitt mich von meinen Quellen ab, ich musste ihr auf den Grund gehen, um Boden zu gewinnen. Es war kein gesunder Boden; es war ein schwerer Gang zu Grunde."
Der Aphorismus
Bis heute hat der ältere Herr mit dem weißen Bart, dem beobachtenden Blick und dem wachen Geist mehr Leser in Deutschland als in Israel. Dort ist seine Frau, die als Kalligraphin und Illustratorin unter dem Künstlernamen Metavel arbeitet, wegen der Gestaltung einiger populärer Kinderbücher fast bekannter als er.
Benyoetz ist ein vielfach preisgekrönter Meister des Aphorismus, jenes kurzen, philosophischen Sinnspruchs, der mit wenigen Worten viel sagt. Sie sind sein Leben: Dichtung, Geistreiches, Widerspenstiges, Anregendes, Aufschlussreiches, Geheimnisvolles, Tiefsinniges. Es ist Sprachkunst. Die leisen Aphorismen von Benyoetz, die lange nachklingen, sind vielleicht die passende literarische Form in Zeiten des laut tosenden medialen Sprach-Überflusses. Auch in der gegenwärtigen Weltlage. "Kriege sind Versäumnisse des Nachkriegs", schreibt er. In der Tat gebe "es nur Kriegs- und Nachkriegszeiten".
Der Schriftsteller lebt heutzutage in Tel Aviv und Jerusalem. An beiden Orten birgt seine Wohnstube eine der seltener werdenden Schatzkammern der Emigrantengeneration, gefüllt bis unter die Decke mit den Klassikern der deutschsprachigen Literatur. Bereits 1959 legte Benyoetz das Rabbinerexamen ab, ohne später als Rabbiner zu arbeiten. Seinen zuletzt erschienenen Werken merkt man diese rabbinische Prägung eher an als den Arbeiten der frühen Jahre. "Du kannst ohne Gott auskommen, aufgeben kannst du ihn nicht. Die Aufgabe steht am Ausgang", heißt es an einer Stelle.
Benyoetz ist regelmäßig Gast bei Lesungen nach Deutschland, Ende Mai 2022 wieder. Seine Literatur wird im deutschen Sprachraum präsenter. Seit 2017 hat sich der Verlag "Königshausen & Neumann" mit Elan der Arbeiten von Benyoetz angenommen und mittlerweile an die zehn Werke neu aufgelegt, neue Arbeiten und Veröffentlichungen, die auf dem Markt nicht mehr erhältlich waren. Allein im Jahr 2021 erschienen "Finden macht das Suchen leichter", "Die Zukunft sitzt uns im Nacken" und "Fazittert. Eine Spätlesung".
Deutsch in Israel
Dabei sieht Benyoetz heute auch wieder eine Rezeption deutschsprachiger Literatur in Israel. "In Israel wird wenig oder kaum noch Deutsch gesprochen, geschweige denn geschrieben, aber nicht wenig Deutsch gelernt und nicht wenig aus dem Deutschen übersetzt", sagt er der Deutschen Welle. Auch von Moses Mendelssohn - er nennt ihn seinen "Großvater" - werde seit wenigen Jahrzehnten "immer mehr gesprochen und gedruckt".
Eigentlich, sagen manche kundigen Köpfe der Branche, wäre der nun 85-jährige Autor ein würdiger Kandidat für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Schließlich gab und gibt er der deutschen Sprache so viel zurück. "Dieses Deutsch", sagt er selbst, "wird von einem Israeli gemeistert, es hat seine Adresse und seinen Namen: das Jerusalemdeutsch."